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50 Jahre VIENNALE

Text: Jörg Schiffauer | Fotos: Archiv

Vermutlich hätten sich nicht einmal die Optimisten in der Gruppe jener engagierten Filmjournalisten, die 1960 die „Internationale Festwoche der interessantesten Filme des Jahres 1959“– Keimzelle der Viennale – veranstaltet hatten, jene Entwicklung träumen lassen, die ihr Projekt im Lauf der Zeit nehmen sollte. Denn aus den kleinen Anfängen wurde nicht nur ein nicht mehr wegzudenkender Fixpunkt des heimischen Veranstaltungskalenders; die Verdienste, die sich die Viennale über die Jahrzehnte hinweg bei der Verankerung des Mediums Film als wichtigem Kulturträger im kollektiven Bewusstsein erworben hat, können gar nicht groß genug eingeschätzt werden. Mit einigen besonderen Programmpunkten tragen Direktor Hans Hurch und sein Team der Jubiläumsauflage (1961 und 1983 war die Viennale ausgefallen) auch entsprechend Rechnung.

Dazu zählt etwa das Special Program, das der Filmemacher und Autor Jörg Buttgereit unter dem Titel „Eine kleine Geschichte des Unheimlichen“ zusammengestellt hat. Buttgereit, der sich mit seinem abgründigen Low-Budget-Horrorfilm Nekromantik (1987) einen über die Fan-Community hinausgehenden Namen gemacht hat, unternimmt anhand von dreizehn Filmen den Versuch, die Lust auf das Außergewöhnliche und das Erschreckende, das der Zuschauer im Kino ja fortgesetzt zu suchen scheint, auf den Punkt zu bringen. Eine Suche, die – wie das von Buttgereit kuratierte Programm demonstriert – auch oft Grenzüberschreitungen und Tabubrüche mit sich brachte, dabei jedoch in filmgeschichtlicher Sicht auch markante Pflöcke ästhetischer und dramaturgischer Art einzuschlagen im Stande war.

Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust (1979) schaffte es schon einmal in die Top 25 auf der Liste der kontroversiellesten Filme aller Zeiten des Magazins „Entertainment Weekly“. Cannibal Holocaust zählt zu jenen Splatter- und Exploitationfilmen (vornehmlich italienische Produktionen) aus den siebziger und achtziger Jahren, die neben expliziter Gewalt und einem unverhohlenen Sadismus mit einer pseudo-dokumentarischen Gestaltung genre-immanente Distanzierungsmechanismen außer Kraft zu setzen beabsichtigten. Im Film macht sich ein Anthropologe auf die Suche nach einem im Amazonasgebiet verschollenen Filmteam, das eine Dokumentation über die dortigen Eingeborenen zu drehen beabsichtigte. Er findet aber nur fragmentarisches Filmmaterial, das jedoch die grausige Geschichte um das Ableben der Dokumentarfilmer enthüllt: Um ihren Film spektakulärer zu machen, manipulierten sie die Realität, zogen mordend, vergewaltigend und brandschatzend durch den Dschungel – bis die zuvor friedlichen Eingeborenen auf unfassbar grausame Art zurückschlugen und das Filmteam massakrierten. Neben seiner extrem drastischen Gewaltdarstellung – Regisseur Deodato geriet sogar kurzzeitig in Verdacht, einen wirklichen Snuff-Film inszeniert zu haben –, thematisiert Cannibal Holocaust aber in einer für dieses Subgenre ungewohnten Deutlichkeit die manipulativen Möglichkeiten des Mediums. Auch wenn der medienkritische Ansatz vom Filmblut oft überströmt wird, entfachte Cannibal Holocaust unter Aficionados vielfältige Diskurse, die oft ein wenig ins Skurrile gingen – reichte einer doch sogar soweit, eine Sequenz von Cannibal Holocaust mit den Erkenntnissen über die Montage des russischen Filmtheoretikers Wsewolod Pudowkin in Verbindung zu bringen. Politische Korrektheit dürfte für Ruggero Deodato in keiner Hinsicht eine Kategorie gewesen sein, besetzte er die Hauptrolle doch mit Robert Kerman, der in den siebziger Jahren zu den meistbeschäftigsten Hardcore-Darstellern der USA zählte.

Weniger spekulativ ging Tobe Hooper bei The Texas Chainsaw Massacre (1974) ans Werk; dem nachhaltigen Schrecken, den der Film generiert, hat das freilich keinen Abbruch getan. Eine Gruppe junger Leute gerät bei einem Trip durch das ländliche Texas an eine mörderische Familie, der Ausflug wird zu einem nicht enden wollenden Albtraum aus Tod und Gewalt. The Texas Chainsaw Massacre repräsentiert ein Schlüsselwerk des neuen US-amerikanischen Horrorfilms, der in den siebziger Jahren dem Genre einen gewaltigen Impuls versetzte. Regisseure wie George A. Romero, Tobe Hooper und Wes Craven reflektierten in ihren Filmen mit drastischen Bildern die konfrontative gesellschaftliche Situation, die die Zeit der politischen und sozialen Umbrüche durch die Gegenkultur der Sechziger nach sich gezogen hatte. Ereignisse wie die Ermordung von John F. Kennedy, Robert Kennedy und Martin Luther King, bürgerkriegsähnliche Unruhen wie jene in Watts oder die brutale Niederschlagung von Protesten gegen den Krieg in Vietnam an der Kent State Universität durch die Nationalgarde, die vier Studenten das Leben kostete, hatten tiefe Gräben innerhalb der US-Gesellschaft aufgerissen. Filme wie The Texas Chainsaw Massacre trugen mit ihren Geschichten den Horror mitten in den Alltag, das ländliche Amerika – im Selbstverständnis der USA ein Herzstück von „God’s Own Country“ – mutiert hier vom idyllischen Fleckchen Erde zu einem von Angst und Gewalt dominiertem Ort, das Grauen findet sich im vermeintlich Normalen wieder. Mit ihren oft semi-dokumentarisch anmutenden Bildern gelang es diesen Filmen, deutliche Assoziationen zu realen Verhältnissen zu erwecken und so den Schrecken noch zu verstärken – zweifellos mit ein Grund, warum das Neue Amerikanische Horrorkino so wirkungsvoll war und oft höchst kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Wes Cravens Kultfilm The Hills Have Eyes (1977) ist hierfür ein ebenso exzellentes wie anschauliches Beispiel. Dabei gerät eine amerikanische Durchschnittsfamilie auf der Fahrt in den Urlaub in einem ehemaligen Atomtestgelände mitten in der Wüste in die Gewalt eines dort ansässigen Clans degenerierter Kannibalen. In der Wildnis beginnt ein gnadenloser Kampf ums Überleben, der die Familie alle zivilisatorischen Schranken überschreiten lässt. Neben in ihrer Rezeption oft sehr kontroversiellen Arbeiten beinhaltet Buttgereits Programm aber auch kanonisierte Spannungsklassiker wie Ridley Scotts in ihrer Brillanz immer noch unerreichte Fusion von SciFi und Horror, Alien (1979), Mario Bavas Terrore nello spazio (Planet der Vampire, 1965), von machen Kritikern als eine Art Alien-Vorlage apostrophiert oder aber herrlichen Monster-Trash aus Japan mit Uchû daikaijû Girara (Guila – Frankensteins Teufelsei, 1967). Den zeitlichen Rahmen für die Filmreihe setzt Jörg Buttgereit mit The Thing from Another World. Christian Nybys Version von 1951 um die Auseinandersetzung der Mannschaft einer Forschungsstation in der Einsamkeit der Arktis mit einem unfreundlichen Besucher aus dem Weltall ist deutlich von der paranoiden Stimmung der McCarthy-Ära geprägt, John Carpenter schuf mit seinem grandiosen Remake aus dem Jahr 1981 ein ungemein intensives, klaustrophobisches Bedrohungsszenario, kongenial kombiniert mit Bodyhorror vom Feinsten.

Zu den Höhepunkten des übrigen Viennale-Programms zählt mit Sicherheit Paul Thomas Andersons neuer Film The Master, der die Gründung einer religiösen Bewegung thematisiert. In der Person des von Philip Seymour Hoffman gespielten selbst ernannten Gurus lassen sich unschwer Ähnlichkeiten mit dem Scientology-Gründer L. Ron Hubbard erkennen. William Friedkin, eine der großen Persönlichkeiten des US-amerikanischen Kinos seit den siebziger Jahren, ist mit der grimmigen Krimikomödie Killer Joe ebenso vertreten wie Todd Solondz, einer der wichtigsten Vertreter des US-Independentkinos, mit seinem neuen Film Dark Horse.

Zu einem Besuch erwartet wird mit Werner Herzog eine der eigenwilligsten und faszinierendsten Persönlichkeiten des Weltkinos, die 1991 und 1992 selbst als Viennale-Direktor fungierte. Anlässlich seiner Visite feiert Herzogs Dokumentarfilm On Death Row Österreich-Premiere. Ein Tribute ist dem großen britischen Schauspieler Michael Caine gewidmet, der seit Jahrzehnten eine ebenso feste wie populäre Größe des anglo-amerikanischen Kinos repräsentiert und eine Retrospektive bietet die Möglichkeit, viele der zu Klassikern avancierten Filme von Fritz Lang wieder einmal zu sehen.

| FAQ 19 | | Text: Jörg Schiffauer | Fotos: Archiv
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