Wir schreiben das Jahr 1993. Die schwedische Zeitung „Expressen“ stellt fünf Finanzprofis und einem Amateur jeweils 10.000 Kronen Kapital zur Verfügung, um damit an der Börse maximalen Gewinn zu erzielen. Der Amateur entscheidet das Rennen für sich. Sein Depot steigt innerhalb eines Monats um 1.542 Kronen. Hinterfragt man die Methode seiner Aktienauswahl, enthüllt sich des Pudels Kern: Der Amateur hat mit Dartpfeilen auf ausgehängte Kurszettel geworfen. Und er war ein Schimpanse.
Dank dieser Geschichte wird deutlich, was den amerikanischen Bestsellerautor Paul Auster dazu bewegt hat, von Geld als Massen-Halluzination zu schreiben. Finanzmärkte reagieren eben nicht rational. Im Gegensatz zur viel zitierten Realwirtschaft liegen ihnen nicht nur Produktionsfaktoren und tatsächliche Firmenwerte zugrunde. Finanzmärkte sind manchmal wahre Drama Queens. In guten wie in schlechten Zeiten. Habgier, Verlustangst und Herdentrieb können unvermutet zu starken Schwankungen führen. Trotzdem suchen wir angesichts von 1,4 Billionen Dollar Verlusten, die der Internationale Währungsfonds den Akteuren des globalen Finanzmarkts prophezeit, nach einem Schuldigen: Die Gier der Banker, Fondsmanager und Anleger habe uns alle an den Abgrund getrieben, beklagen Medien, Moralisten, Politiker und Soziologen. Der Krankheitserreger scheint identifiziert, eine Heilung aber in weiter Ferne.
Mit dem Niedergang des Investment-Titans Lehman Brothers wurde aus einer beginnenden Finanzkrise eine ausgewachsene Systemkrise. Plötzlich steht der Kapitalismus selbst auf dem Prüfstand – und mit ihm die Rich & Shameless am Pranger. Aber wer gehört dazu? Ab wann ist man schamlos? War es Facebook-Mastermind Mark Zuckerberg, als er 13 Millionen Dollar Risikokapital von einer Firma nahm, die eng mit einer Data-Mining-Institution der CIA verbunden ist? Oder wäre er es, wenn er jetzt an die Börse ginge, um die laufenden Kosten von kolportierten 100 Millionen Dollar zu decken, die seine 200 Millionen User mit ihren wachsenden Datenmengen verursachen? Waren Annie Leibovitz oder Steven Spielberg gierig, als sie die Mittel ihrer Fonds beim Investment-Betrüger Bernhard L. Madoff anlegten, um für wohltätige Zwecke 20 Prozent Profit zu erzielen? Wer legt unsere Maßstäbe für Moral fest? Und warum wird die Gier in so vielen Kulturen und Religionen verurteilt?
Dass es in der Geschichte durchaus positive Sichtweisen gab, erläutert der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann: „Es gab viele Denker, die den Eigennutz und das Gewinnstreben als positive Triebfedern unseres Handelns erkannten. Bernard Mandeville zum Beispiel, Adam Smith, aber auch bei Marx wird das individuelle Streben nach Glück, Geld und Gewinn nicht schlechterdings verteufelt. Vor allem den antiken Philosophen ging es nicht darum, etwas für Sünde zu erklären, sondern zu überlegen, wie die menschlichen Triebe und Bedürfnisse mit den Zielen eines halbwegs funktionierenden Gemeinwesens in Einklang gebracht werden können. Aristoteles’ Idee des rechten Maßes kritisiert nicht Triebe oder Affekte, sondern versucht, deren schädliche Extreme zu vermeiden. Noch Spinoza definiert die Habsucht als die unmäßige Liebe zu Reichtümern. Was aber schon Aristoteles irritierte, war die spezifische Gier nach Geld. Denn diese kennt eigentlich keinen Inhalt, daher auch keine Grenze. Das unterscheidet auch die Gier nach Geld von allen anderen Formen: Es gibt keinen Maßstab für ihre Befriedigung.“
Im Gegensatz zum niederländischen Sozialtheoretiker Mandeville, der im 18. Jahrhundert die provokante These aufstellte, dass nicht die persönliche Tugend, sondern Laster wie Luxus, Verschwendung, Krieg und Ausbeutung für Fortschritt und Prosperität einer Gesellschaft sorgen, legt der Wirtschaftspsychologe von heute wieder eine moralische Sicht der Dinge nahe. Erich Kirchler von der Universität Wien spricht vom schädlichen Selbstinteresse, Egoismus und Eigensinn. „Gier ist mit Geiz verwandt, einer der sieben Todsünden. Geiz bedeutet übersteigerte Sparsamkeit und das Streben, den Besitz zu erhalten. Materielle Güter sind nicht mehr Mittel zum Zweck. Das eigentliche Ziel ist verloren gegangen … Wer gierig ist nach mehr, steht in Konkurrenz zu anderen und kooperiert nicht. Kurzfristig mag Gier Erfolg und Besitz bedeuten. Langfristig wird durch mangelnde Kooperation, Egoismus und Defektion das Vertrauen anderer in den gierigen Agenten zerstört. Gier frisst Vertrauen! Misstrauen unterminiert Kooperation und damit nachhaltigen Gewinn und Besserstellung der Gemeinschaft.“
Auch Liessmann verweigert der kollektiven Maßlosigkeit den Persilschein. „Wer seinen Hunger stillt, ist nicht gierig. Wer nicht genug bekommen kann, sich überfrisst und sich und seine Umgebung voll kotzt, sehr wohl.“ Das System Finanzmarkt ist in eine deutliche Schieflage geraten. Das Vertrauen in eine funktionierende Finanzwelt ist verloren gegangen. Dennoch macht es wenig Sinn, die Gier und damit auch den Kapitalismus zu verurteilen. Es bedarf lediglich einer Systemkorrektur, keiner Systemzerschlagung. Funktionierende alternative Modelle dazu gibt es bereits.
Genau hier knüpft der deutsche Finanz- und Ethikexperte Jens-Ulrich Nommel an: „Es gibt inzwischen eine Art Belohnungssystem für maßvolles Agieren und Verantwortung. Beispielsweise Aktienindizes und Aktienfonds, die nur Unternehmen aufnehmen, die nachweislich nachhaltiges und verantwortungsvolles Wirtschaften zeigen. Mittlerweile bemühen sich Unternehmen, um in solchen Indizes und Fonds gelistet zu werden. Aktionäre können durch Investitionen in solche Fonds ihre Verantwortung geltend machen. Oder anders ausgedrückt: Die meisten Probleme auf unserer Welt sind durch die Ökonomie verursacht. Da liegt es doch nahe, sie auch mittels der Ökonomie zu lösen!“
Auch die Vergabe von Mikrokrediten führt Nommel als Beispiel für eine gelungene Konstellation an, in der Kreditgeber, Kreditnehmer und Vermittler am Ende als Gewinner dastehen, bei gleichzeitig geringem Risiko. Der Anteil sozial verantwortlicher Investments ist allerdings immer noch erschreckend gering, weshalb das Modell auch keine Lösung für die Krise im Ganzen sein kann. Bleibt die Moral am Ende also doch wieder auf der Strecke? Oder schrammt die Frage nach der Rechtschaffenheit am Kern des Problems schlichtweg vorbei?
Wir leben in einer Gesellschaft, die Gratismusik, Gratisflüge, Gratishandys und gratis Facebook-Zugang verlangt. Die neue Me-too-Society will alles, und das umsonst. Dieses Phänomen ist viel weniger mit Gier denn mit Geiz zu beschreiben. Die Gier ist als Macher, Treiber und Entdecker die begrüßenswertere der beiden Sünden. Der Geiz kann nicht mehr als verhindern, blockieren und den Kapitalismus kannibalisieren. Wären wir alle moderne Dagobert Ducks, also knausrige Konsumverweigerer, wären die Geldspeicher voll, aber die Einkaufsstraßen leer. Das Wirtschaftssystem nach moralischen Vorstellungen bewerten zu wollen ist naiv. Sparen und Teilen sind in der Wirtschaftswelt nicht gerade Erfolgsmodelle. Würden alle nur noch Second-Hand-Schnäppchen bei eBay ersteigern, gäbe es bald keine funktionierende Industrie mehr.
Wer die Gier verteufelt, verteufelt den Kapitalismus. Und damit letztendlich Wohlstand und Fortschritt. Der deutsche Soziologe Georg Simmel vertrat bereits um die letzte Jahrhundertwende einen überraschend fortschrittlichen Standpunkt zum Thema: Je reibungsloser die Wirtschaft mit Hilfe des Geldes funktioniere, desto größer sei die persönliche Freiheit und die kulturelle Vielfalt, war Simmel überzeugt. „Seine Einschätzung des Geldes sollten sich alle hinter die Ohren schreiben, die den Mammon als Teufelszeug dämonisieren. Sie gilt in unserer hoch differenzierten Gesellschaft erst recht, denn ohne Geld müssten wir ja zum Naturaltausch zurückkehren – das wäre umso absurder, je spezialisierter die Güter sind: Tausche Satellitenschüssel gegen Entsafter“, bringt es der Soziologe Gerhard Schulze von der Universität Bamberg auf den Punkt. Über die modernen Marktwirtschaften und reichen Kulturen sagt er: „Sie setzen das ständige Mehrwollen voraus, um zu funktionieren und sie erziehen dazu – seit ungefähr zweihundert Jahren. Ohne die Wechselbeziehung zwischen Reichtum, Wirtschaftsordnung und alltäglichen Zielvorstellungen wären wir nicht da, wo wir heute sind, sondern noch bei der Vierfelderwirtschaft. Wer das pauschal als gierig diskreditiert, ist in meinen Augen nicht glaubwürdig.“
Schulze sieht den Menschen als das, was er ist. In seiner Gesamtheit, innerhalb der Gesellschaft. Und da gehört das Geben ebenso dazu, wie das Nehmen. „Zur anthropologischen Normalität gehört das Habenwollen dazu, die Begehrlichkeit, die Freude an Dingen. Diesen Platz hat die Evolution den Menschen zugewiesen. Sie sind nicht darauf angelegt, Körner zu picken wie die Vögel oder sich durch die Erde zu fressen wie die Regenwürmer. Sich nicht mit einem minimalen Niveau zu begnügen, sondern alles immer noch verbessern und vermehren zu wollen, ist nicht angeboren – es ist eine Grundentscheidung der Moderne.“
An einer Sache ändert also auch die gegenwärtige Finanzkrise nichts: Die Gier hat ihre guten Seiten. Es kommt nur auf die richtige Dosis an. Als Neugier trieb sie Visionäre wie Edison, Lilienthal oder Brandenburg an, den Kohlefaden, das Gleitflugzeug oder die MP3 zu erfinden. Als Gier nach Anerkennung motivierte sie eine Ausnahmepersönlichkeit wie Heinrich Schliemann, über zwanzig Sprachen zu lernen, zehn Bücher zu schreiben und mit Ende 40 den legendären Goldschatz des antiken Troja zu entdecken. Oder um zur Wirtschaft und dem ersten Volkswirtschaftler der Geschichte – dem Schotten Adam Smith – zurückzukehren: Wenn es um das tägliche Brot geht, verlässt man sich besser nicht auf die Menschenliebe des Bäckers, sondern auf seine Gewinnsucht.
Trotzdem hat die Gier zur Krise geführt, tönen die Skeptiker und Moralisten noch immer aus ihren Elfenbeintürmen. „Natürlich gäbe es ohne die Gier keine Krise. Die Frage ist nur, ob es lohnt, sich lange damit zu beschäftigen. Man wird den Menschen die Begehrlichkeit mit noch so empörten Bußpredigten nicht austreiben, schon gar nicht in einer Wirtschaftsordnung, deren Erfolg auf dem Ausleben der Begehrlichkeit beruht. Also sollten wir über andere Ursachen der Krise nachdenken – über solche, die man ändern kann. Wenn wir bessere Institutionen gehabt hätten, bessere Frühwarnsysteme, mehr politischen Willen, den absehbaren Crash abzuwenden und mehr Gebrauch des gesunden Menschenverstands, hätten wir keine Krise, Gier hin oder her“, kontert Schulze aufgebrachten Ethikern.
Egal ob große Tulpen-Manie im 17. Jahrhundert, Südseeblase im England des 18. Jahrhunderts, Eisenbahnblase im Amerika des 19. Jahrhunderts, Schwarzer Freitag, Dotcom-Blase oder zuletzt Immobilienblase und Bankenkrise – eine durch irrationale Massenhysterie fehlgeleitete Marktentwicklung ist nichts Neues in der Geschichte. Krisen sind natürlich wiederkehrende Phänomene. Die Gier hat damit wenig zu tun. Einen passenden Kommentar zur Börsenkrise liefert auch Isaac Newton, der 1720 bei der Spekulation mit Anteilsscheinen der South Sea Company 20.000 Pfund verlor: „Ich kann die Bewegung eines Körpers messen, aber nicht die menschliche Dummheit.“
Doch was genau macht die Menschen so blind vor Gier, dass sie scheinbar vollkommen ohne Hirn risikoreich investieren? Der Neurologe muss es wissen. Bernd Weber von der Universität Bonn gibt uns Einblick in das menschliche Gehirn. „Die Gier ist als extreme Ausprägung des Wollens in unserem Gehirn stark verankert. Die Erwartung von Geld aktiviert in unserem Gehirn gleiche Areale wie Drogen oder Sex. Das ventrale Striatum (oder Nucleus accumbens) ist immer in der Erwartung von Belohnungen aktiv. Diese Hirnregion bestimmt unser Verhalten. Neben dem Nucleus accumbens spielt der mediale frontale Cortex eine große Rolle in der tatsächlichen Wahrnehmung von Belohnungen. Hier werden die wichtigsten Botenstoffe ausgeschüttet – Dopamin wird in der Belohnungserwartung ausgeschüttet, und Endorphine signalisieren das tatsächlich gute Gefühl des Erhaltens von Geld oder anderer belohnender Stimuli.“
Der Mensch ist in einem solchen Zustand quasi gedopt. Er verspürt Erregung und Verlangen. Der Verstand wird ausgeschaltet, und das Gierzentrum übernimmt die Kontrolle. Ein Verhaltensmuster, das die Evolution nicht aus Jux und Tollerei erfand. Es ging wieder einmal ums nackte Überleben.
„Das Prinzip der Steuerung unseres Verhaltens über Belohnungserwartungen ist per se sehr sinnvoll. So muss unser Gehirn entscheiden, ob wir die eine oder andere Option wählen, zum Beispiel bei der Jagd, beim Sammeln von Früchten und so weiter. Aus diesem Grund war es essenziell, dass unser Gehirn ein Modul enthält, welches verschiedene Optionen bewertet und unser Verhalten dahingehend lenkt. Sobald man eine Belohnung erfährt, passt sich die Erwartung allerdings nach oben an. Man befindet sich dann in einer Art Tretmühle. Das bedeutet, man braucht immer höhere Gewinne, um die gleiche Stimulation zu erfahren. Das kann im Lauf der Zeit in Gier münden.“
Forscher der Stanford University gingen den neuronalen Wurzeln der Geldgier ebenfalls auf den Grund. Sie stellten durch Untersuchung der Gehirnströme fest, dass den Versuchsteilnehmern ihr vorhandenes Geld weniger wichtig war als ein zukünftiger Vermögensgewinn. Die Aussicht auf Letzteres sorgte für eine verstärkte Neuronenaktivität. In einer anderen Studie konnte nachgewiesen werden, dass mit der Höhe der Gewinnerwartung auch die Wahrscheinlichkeit eines risikoreichen Investments steigt. Diese neuen Erkenntnisse zeigen, warum Menschen trotz massiven Verlustrisikos Geld in nicht vorhersehbare Wertpapiere stecken.
Entkommen wir den Fängen der Gier also ohnehin nicht, weil sie evolutionär an unser Unterbewusstsein gekettet ist? Selbst wenn, wäre eine Welt ohne Gier nicht gerade das Paradies. Man stelle sich ein Universum voller genügsamer Wanderschildkröten vor: solange fressen, bis das Gras weg ist und sich dann in seinen Panzer zurückziehen, bis es wieder nachwächst. Dann doch lieber Kapitalismus mit Gier und Manner-Schnitten mit Haselnusscreme! Und die Hoffnung darauf, dass ein erster Gieriger endlich wieder abgestürzte Aktien kauft, stirbt ohnehin zuletzt. Selbst wenn es am Ende ein Schimpanse sein sollte.