Ende Mai wird die amerikanische Legende Clint Eastwood neunzig Jahre alt. Doch an Ruhestand scheint er nicht zu denken. Der Regisseur, Schauspieler und Produzent, der bislang vier Oscars sein Eigen nennen kann, pflegt weiterhin sein Image als unbestechlicher Außenseiter und filmischer Querdenker. Dieses Bild kultivierte er von Anfang an: Sei es als schweigsamer Pistolero in Sergio Leones „Dollar“-Trilogie (1964–1966), die ihn zunächst in Europa zur Kultfigur machte (Eastwood hatte die Rolle trotz der Warnung seines Agenten angenommen) oder als politisch unkorrekter Cop in Don Siegels Thriller Dirty Harry (1971), der ihn zum Actionhelden des US-Kinos avancieren ließ. Als bekennender Republikaner gehört Eastwood in Hollywood ohnehin seit jeher zu einer Minderheit.
Als Eastwood Anfang der siebziger Jahre immer öfter am Regiestuhl Platz nahm – und sich dabei selbst die Hauptrolle gab – kassierte er zwar meist gute Kritiken, nachhaltig ernsthafte Anerkennung als Filmkünstler erntete er aber erst so wirklich mit Bird (1988), einem Biopic der Jazz-Legende Charlie Parker. Der vierfach oscarprämierte Western Unforgiven (1992) markierte dann den Beginn einer Wende: Eastwood galt nun endgütltig als Filmemacher mit eigener Handschrift, entsprechend reduzierte er Auftritte in „reinen“ Action- und Unterhaltungsfilmen (wie beispielsweise dem nur ein Jahr zuvor gedrehten Buddy-Cop-Film The Rookie, der nicht nur von der Kritik zerrissen wurde, sondern auch an der Kasse floppte).
Keine Mätzchen
Zu Eastwoods Regie-Highlights der nächsten Jahre, die mit diversen Oscars vergoldet wurden, gehören unter anderem der Thriller Mystic River (2003), das Boxerinnen-Drama Million Dollar Baby (2004) oder der Kriegsfilm Letters from Iwo Jima (2006). Der Regisseur Eastwood pflegt stets einen reduzierten, betont unaufgeregten Stil ohne große Kameramätzchen, in dem die Schauspieler und die Atmosphäre der Handlungsorte (oft Originalschauplätze) im Mittelpunkt stehen. Thematisch lassen sich dabei Auseinandersetzungen mit amerikanischer Geschichte und Institutionen ausmachen, wobei die (Anti-)Helden nicht selten mit der Waffe zur Tat schreiten müssen, um Konflikte zu lösen – in der Welt, die Eastwood zeichnet, sind Liberalismus und Diplomatie oftmals heuchlerisch und wirkungslos. Daran setzte es von liberaler und linker Seite zwar immer wieder Kritik, doch wurde die Legende Eastwood über die Jahre viel zu groß, um sich durch ideologisches Geplänkel ernsthafte Kratzer zuzuiehen.
Unterzieht man Eastwoods Werkkörper der letzten fünf Jahre einer näheren Betrachtung, ist besonders augenfällig, dass die Filme allesamt auf realen Begebenheiten und Personen basieren und die Figur des amerikanischen Helden – und hier wiederum besonders Alltagshelden – in den Fokus stellen. Unter diesen Filmen war beispielsweise das enorm erfolgreiche, aber auch kontrovers aufgenommene Scharfschützen-Biopic American Sniper (2014), Sully (2016), der jenen Piloten ins Zentrum rückt, der eine erfolgreiche Notlandung auf dem Hudson River absolvierte, oder, als Extremfall, 15:17 to Paris (2018): In diesem Film, den man beinahe schon ein Experiment nennen könnte, spielen jene Soldaten, die 2015 einen islamistischen Terroranschlag auf einen europäischen Zug vereitelten, sich selbst.
Der nun anlaufende Richard Jewell kreist erneut um eine Figur, die zufällig in ein dramatisches Ereignis verstrickt wurde: 1996 entdeckte Jewell, ein Wachmann, der früher als Polizist gearbeitet hatte, während eines Konzerts im Rahmen der Olympischen Spiele in Atlanta eine Rucksack, der eine Rohrbombe enthielt. Er verständigte die Polizei und half bei der Evakuierung des Geländes, was viele Menschenleben rettete (die Detonation der Bombe kostete dennoch ein Leben und verletzte über 100 Personen). Jewell, der sich bescheiden gab und betonte, einfach „zur rechten Zeit am rechten Ort“ gewesen zu sein, wurde zunächst als Held gefeiert, doch drei Tage nach dem Attentat meldete die Tageszeitung „The Atlanta Journal-Constitution“, dass das FBI Jewell als möglichen Verdächtigen führe und auf ihn das Profil des einsamen, nach Aufmerksamkeit gierenden Bombers zutreffe, der sich selbst als Held darstellen wollte. Andere Medien sprangen auf, es kam zu einer regelrechten medialen Vernichtungskampagne: Jewell – der aufgrund seiner Leibesfülle und dem Bemühen um Korrektheit ein wenig unbeholfen wirkte – wurde unter anderem unterstellt, er sei ein gescheiterter ehemaliger Hilfsheriff, außerdem wurde er als paranoid bezeichnet. Obwohl er nie offiziell unter Anklage stand, durchsuchte das FBI die Wohnung, in der er mit seiner Mutter wohnte – und all das wurde von Fernsehkameras eingefangen. Es waren 88 Tage, in denen sein Ruf ruiniert wurde. Schließlich musste sich das FBI eingestehen, Jewell zu Unrecht verdächtigt zu haben. Er klagte mehrere Medien erfolgreich auf Wiedergutmachung; im Jahr 2005 wurde der wahre Täter, ein Abtreibungsgegner namens Eric Rudolph verhaftet. 2007 starb Jewell an gesundheitlichen Problemen, die mit Diabetes zusammeningen.
Eastwood bleibt mit Richard Jewell seinem Stil treu: Er erzählt im Wesentlichen unaufgeregt und fokussiert auf die Figuren; nur rund um den Bombenfund gibt es Anleihen an das Thrillergenre. Ansonsten ist der Film ein Drama, das durch das großartige Spiel des bislang auf Nebenrollen abonnierten Hauptdarstellers Paul Walter Hauser besticht, der Jewell sowohl äußerlich als auch vom Sprachmuster her sehr nahe kommt. Jewell erscheint als Figur durchaus sympathisch, aber auch ambivalent bis nervig, besonders wenn er, der sein Leben lang autoritätshörig war, alles mit scheinbarer Engelsgeduld über sich ergehen lässt. Nicht selten wirkt seine Vorliebe für Law and Order zwanghaft und einfältig. Diese Nuancen sind wichtig, denn der Film wird durch sie zwar zum Porträt eines Helden, aber nicht zur Heldenverehrung. Der politische Mensch Eastwood lässt – ähnlich wie bei American Sniper – dem Filmkünstler Eastwood seine Freiheit. Neben Hauser überzeugen auch Sam Rockwell als Anwalt Watson Bryant und Kathy Bates, die für die Rolle der Mutter Jewells als Beste Nebendarstellerin bei den diesjährigen Oscars nominiert war.
Die Antagonisten geben Jon Hamm als FBI-Agent Tom Shaw, der Jewell mit einer Mischung aus Unfähigkeit und Verbissenheit überführen will (Shaw ist ein Amalgam aus mehreren realen Agenten) und die Journalistin Kathy Scruggs (Olivia Wilde). Die Darstellung der 2001 an einer Überdosis Medikamenten verstorbenen Journalistin führte dabei wegen einer Szene, in der sie dem Agenten Sex im Tausch gegen Informationen anbietet, zu einer kleinen Kontroverse in den USA (wie es tatsächlich zum FBI-Leak an die Medien kam, ist bis heute ungeklärt). Dass Eastwood in ein bis zwei Szenen zu sehr auf die Tränendrüse drückt, mag in Verbindung mit den eher unterentwickelten Antagonisten-Figuren zu den kleineren Schwächen des Films – Billy Rays Drehbuch spitzt einige der realen Vorkommnisse aus Gründen des ökonomischen Erzählens zu – gehören.
Doch das Gesamtpaket stimmt: Mit Richard Jewell erweist der konservative Rebell Eastwood nicht nur einem weiteren „everyday hero“ Respekt, sondern gibt auch ein politisches Statement gegen Vorverurteilung ab – Besonnenheitsmahnung an Staat und „vierte Macht“ inklusive.
RICHARD JEWELL / DER FALL RICHARD JEWELL
Drama, USA 2019 – Regie Clint Eastwood
Drehbuch Billy Ray Kamera Yves Bélanger Schnitt Joel Cox Musik Arturo Sandoval Production Design Kevin Ishioka Kostüm Deborah Hopper
Mit Paul Walter Hauser, Sam Rockwell, Jon Hamm, Olivia Wilde, Kathy Bates, Nina Arianda
Verleih Warner Bros., 131 Minuten
Kinostart tba.