Natürlich haben Sportschuhe auch eine praktische Funktion: Man kann sie nämlich beim Sport verwenden. Aber so wie Autos oder Uhren vor ihnen dienen sie – seit mittlerweile auch schon ein paar Jahrzehnten – gleichzeitig als Statussymbole. Und was wäre ein Statussymbol ohne Zuordenbarkeit? Unter den Sportmarken der Welt besitzt adidas angeblich den höchsten Wiedererkennungswert: Die drei Streifen, die adidas-Sneakers zieren, sind aus Sportwelt und Popkultur nicht wegzudenken, Modellnamen wie Special, Campus, Jogging High, Stan Smith, Superstar oder Samba sind Legende. Innovationen in Sachen Material und Fertigung gingen und gehen einher mit Emotion (sprich: sportliche Erfolge) und Stilbewusstsein (sprich: Mode). Wer sich konkret für die Veränderung bzw. die Kontinuität der Modelle über die Jahrzehnte interessierte, musste sich diese Informationen bislang aus diversen Quellen zusammenstückeln. Nun greift der Verlag Taschen zum Hunderter der Milliardenmarke in die Vollen und bringt ein Buch heraus, dass die Herzen von Sneakers-Freunden zweifellos höher schlagen lassen wird: „The adidas Archive. The Footwear Collection“, konzipiert und fotografiert von Christian Habermeier und Sebastian Jäger, unternimmt einen Streifzug durch die Firmengeschichte und präsentiert als erste visuelle Aufarbeitung über 350 adidas-Modelle, darunter auch rare Stücke und Prototypen.
Bekanntes wird zunächst kompakt abgehandelt: Die Gründung des Unternehmens durch die Brüder Adolf „Adi“ und Rudolf Dassler, die bescheidenen Anfänge in der Waschküche in der deutschen Kleinstadt Herzogenaurach, der Bruderzwist (der zur Gründung der Marke Puma durch Rudolf führte), der große globale Erfolg und die sportlichen Erfolge. Langstreckenläufer Emil Zátopek, der 1952 bei den Olympischen Spielen in Helsinki drei Goldmedaillen in adidas-Schuhen errang, wird natürlich ebenso erwähnt wie das Fußballwunder von Bern durch die deutschen Nationalmannschaft 1954 (der Triumph soll nicht zuletzt auf die auswechselbaren Stollen zurückgehen, die den deutschen Spielern auf dem feuchten Rasen einen Vorteil boten). Und auch Namen wie Franz Beckenbauer, Haile Gebrselassie oder Zinédine Zidane fehlen nicht.
Man liest über die Krise des Unternehmens in den achtziger Jahren, die adidas kurzfristig den Anschluss an die jüngere Generation verlieren ließ (was dem Konkurrenten Nike zugute kam), über den Wechsel der Eigentümerstruktur und die Umwandlung in eine AG. Man erfährt, wie adidas über das Lifestyle-Segment ein Comeback feierte, Designer wie Yohji Yamamoto oder Stella McCartney engagierte oder bei den Sneakerheads mit limitierten Modellen für Furore sorgte. Die Reaktion auf die Globalisierung, die Speedfactories mit vollautomatisierter Fertigung und einem 3-Druckverfahren, das auf individuelle Kundenwünsche eingeht sowie die Kooperation mit „Parley for the Oceans“ – aus den Ozeanen gefischtes Plastik wird für die Herstellung neuer Schuhe verwendet – führen ins Heute.
Doch der Hauptteil ist dem emotional-nostalgischen Teil vorbehalten, also den Schuhmodellen, und da es sich um eine Taschen-Publikation handelt, ist die Aufmachung dieses umfangreichen Bandes gewohnt hochqualitativ. Mitherausgeber Christian Habermeier geht auf die fotografietechnischen Aspekte ein, die es möglich machten, die Schuhe so abzulichten, dass ihnen möglichst viele Details entlockt wurden. Retuschen waren nicht erlaubt, so Habermeier: „Durch aufwendige Tests gelang es uns, eine sehr flexible Lichtlösung zu finden, ohne Effekthascherei, ein Setting, das sich zurücknimmt, doch dem Objekt möglichst viele Details entlockt, und das bei hoher Anpassungsfähigkeit, Wiederholbarkeit und Modularität. Alles ist ,echt‘, die Rasenreste und Flecken auf dem Leder, aber auch Risse und Reparaturbänder, Unterschriften … bis zum originalen Schattenwurf der Schuhe. Nichts ist manipuliert, das pure Objekt.“ So wie die drei Streifen ein simples, aber effektives Design darstellen, so setzt auch die Fotografie auf Purismus; wie das Team hier eine wiederholbare Positionierung der Objekte und Kameras über Jahre geschafft hat, ist visuell eindrucksvoll und wird gerade durch die Reduktion zum sinnlichen Erlebnis. Bedient hat man sich dabei an der adidas-Schuhsammlung, die früher von Adi Dassler als technische Bibliothek verwendet wurde und die seit 2009 als professionelle Informationsdatenbank namens adidas History Management genutzt wird.
Auf lauten Sohlen
Neben den schon erwähnten Sportmodellen – zu denen unter anderem der Adistar 2000 mit auswechselbaren Spikes gehört (der Kubaner Alberto Juantorena errang mit dem Modell 1976 Doppelgold in Montreal) – findet sich auch Schuhwerk für Einsatzgebiete, die man nicht unbedingt als erstes mit adidas in Verbindung bringt: Der Super Trekking (1982) etwa war ein Wanderstiefel, der gemeinsam mit Alpin-Legende Reinhold Messner entwickelt wurde. Eine besonders große Rolle nimmt naturgemäß das Show- und Kreativbusiness ein: Sei es der Campus, der auch nach drei Jahrzehnten noch unverändert hergestellt wird und von den Beastie Boys auf ein Albumcover gehievt wurde, der Allround, den KISS-Sänger Paul Stanley gern auf der Bühne trug oder Freddie Mercurys bevorzugter Sneaker Hercules, der eigentlich als Wrestling-Schuh entwickelt worden war. Unter den Sammlerstücken und Raritäten des Bandes kommt der Superstar besonders oft vor: Für die Red Hot Chili Peppers wurde er etwa 2005 in Nadelstreifen gekleidet und um Porträts der Musiker auf der Außensohle ergänzt. Inspiriert von der Hip-Hop-Band Run DMC gab es sogar mehrfache Sonderauflagen, darunter einen auf 1000 Exemplare limitierten Superstar 80s „Run DMC“ (2013). Streng limitiert ist auch der Superstar Crystal aus Straußenleder mit Swarovski-Kristallen (2001).
An filmischen Beispielen vertreten sind beispielsweise der ultrarare Zissou Rom (der eigentlich zunächst nur für Wes Andersonss Film The Life Aquatic with Steve Zissou angefertigt wurde) sowie spezielle Modelle mit Kermit, dem Frosch (natürlich knallgrün) oder dem „Star Wars“-Bösewicht Darth Vader (natürlich tiefschwarz). Einer Kunstgalerie gleicht schließlich der Abschnitt Fashion: Wie verspielt, ironisch, monströs oder stilvoll ein Sneaker sein kann, zeigen Modelle von Designern wie Claude Closky, Jeremy Scott oder Mary Katrantzou.
So ist „The adidas Archive“ ein wunderbares Stück Zeit-, Mode-, Sport- und Kulturgeschichte zugleich geworden. Jetzt muss man sich nur noch entscheiden, ob man die Lektüre wie einen Sprint oder wie einen Marathonlauf angeht.
Christian Habermeier, Sebastian Jäger
The adidas Archive. The Footwear Collection.
Deutsch, Englisch, Französisch.
Taschen Verlag, Köln 2020. 644 Seiten.