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Strenge Kammer

Text: Bert Rebhandl | Fotos: Press

Die Kontaktbeschränkungen haben das Kino so verändert, dass es vielleicht nie wieder normal wird: Vier Beispiele für das Erleben von Filmen und Serien in diesem Sommer der Ungewissheit.

Gartenbaukino © Magdalena Blaszczuk

Für das Wort Straßenfeger gibt es im Englischen nur eine wörtliche Entsprechung: ein „street sweeper“ hat aber mit diesen Ereignissen nur am Rande zu tun, bei denen sich eine Bevölkerung um ein Medienereignis versammelt, und zwar in einem Ausmaß, dass die Straßen wirken wie leergefegt. In der Frühzeit des Fernsehens gab es solche Ereignisse immer wieder. Sie definierten eine Gemeinschaftserfahrung mit dem neuen Medium, der im Englischen eher der Begriff „water cooler talk“ entspricht. Also das Gesprächsthema, das aus dem Feierabend auch am nächsten Morgen in den Büros noch anschlussfähig ist.

Einen etwas anderen Straßenfeger bekommt man in dem Science-Fiction-Film Die Weite der Nacht (The Vast of Night) von Andrew Patterson zu sehen: in der Kleinstadt Chayuga in New Mexico findet ein High-School-Basketballspiel statt, und alle gehen hin. Die beiden Helden sind also allein auf der Straße, und dann auch allein auf Sendung: der Radio-DJ Everett „The Maverick“ Sloan und Fay Crocker, eine junge Frau, die Everett verehrt, und die in der Fernsprechzentrale die Anrufe in seine Sendung umstöpselt. So war das noch üblich in den fünfziger Jahren, das ist die Zeit, in der Die Weite der Nacht spielt.

Es war auch eine Zeit, in der viele Menschen an Fliegende Untertassen glaubten. Auf eine kanonische Fernsehserie von damals spielt Patterson an: Er erzählt eine Twilight Story, er hat für das heutige Kino eine sehr schöne Hommage an das Gruselfernsehen von damals gestaltet. Und nun ist Die Weite der Nacht gar nicht mehr ins Kino gekommen, sondern auf Amazon Video gelandet, also bei einem Streamingdienst. Bei einem der großen Profiteure der merkwürdigen Situation, in die das Coronavirus die kulturellen Öffentlichkeiten gestürzt hat. Sars-CoV-2 erwies sich in den letzten Wochen als der größte Straßenfeger seit Jahrzehnten, und wenn nun zumindest der öffentliche Raum nicht mehr versperrt ist, so bleibt für die besonderen Räume der Kultur doch bis auf Weiteres nur eine vage Prognose: ob wir irgendwann wieder mit der alten Selbstverständlichkeit in dicht besetzten Kinos sitzen werden, ist sehr ungewiss. Für diesen Sommer muss man wohl davon ausgehen, dass das Kino sich als eine neue Erfahrung konstituieren wird, mit anderen Formen von Privatheit und mit reduzierter Gemeinschaftlichkeit, auch mit reduzierter Anonymität. Das schützende Dunkel schützt nicht mehr.

02_The_Vast_of_Night_c_2019_Amazon.pngThe Vast of Night © 2019 Amazon.com Inc.

Vier Beispiele sollen deutlicher machen, wie das Kino im Sommer 2020 aussehen könnte. Das erste ist eben Die Weite der Nacht, ein Film, der unter idealen Umständen durchaus einen Filmstart verdient gehabt hätte, der auch auf Festivals entdeckt wurde, und der nun im Heimkino aber dennoch eine passende Platzierung gefunden hat. Denn Patterson erzählt vom ersten Schub der Abwanderung der Bewegtbilder aus dem kollektiven Raum des Kinos in die Wohnzimmer der Konsumgesellschaft. In den 1950er Jahren vollzog sich diese Privatisierung relativ rasch, und das Kino reagierte zwar mit Formen wie dem Autokino oder neuen Palästen, konnte aber die alte Vorherrschaft nie wieder zurückgewinnen.

tiger_king.pngTiger King © Netflix

Heute sind Netflix und Amazon Prime Video, Disney+ und andere Streamingportale an die Stelle der Primetime-Sender gerückt, die ungefähr ein halbes Jahrhundert lang das verbindende Element zwischen vielen Publikumsschichten waren. Die Portale machen einander mit Events Konkurrenz, denn gerade das Prinzip Online-Videothek bedarf auch ständig einer Dramaturgie der Aufmerksamkeit. Netflix gelang in diesen Frühsommer mit der Kurzserie Tiger King – das zweite Beispiel – ein Hit nicht nur bei den Abrufen, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Über diese krasse Geschichte um exzentrische und rivalisierende Raubtierhalter in Amerika habe auch viele Menschen geredet, die nur von Tiger King gelesen hatten. Netflix ist sicher mehr als diese eine Serie, aber für eine mögliche Tendenz kann man sie durchaus als Zeichen nehmen: Die Unterhaltung wird härter. Einen deutlicheren Fall von Freakshow-Fernsehen gab es lange nicht, und wenn dieser Erfolg Schule macht, kann man sich das Wohnzimmer künftig als strenge Kammer vorstellen, mit Netflix als der Dominatrix und Disney+ für die täglich mehr werdenden Stunden im Pyjama.

shellac_isadoras_children.pngIsadoras Kinder © Filmgarten
Unendlichkeit.pngÜber die Unendlichkeit © Polyfilm

Die Unsicherheit in der Kinobranche hat aber in den letzten Wochen auch neue Modelle entstehen lassen, von denen vor allem die Auswertung kleinerer Filme profitieren könnte …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 57

 

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