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Start making sense

Text: Pamela Jahn | Fotos: HBO

1984 drehte Jonathan Demme mit den Talking Heads einen der besten Konzertfilme aller Zeiten. Jetzt legt Spike Lee mit „David Byrne’s American Utopia“ nach – und holt auf.

Foto: David Lee/HBO

David Byrne hat einen Traum. Von Amerika. Und von einer Zukunft, die besser ist als die jetzige. Als er im März 2018 sein jüngstes Soloalbum American Utopia veröffentlichte, immerhin das erste seit Grown Backwards vor 14 Jahren, sah die Realität natürlich noch ganz anders aus. Damals erlebte Donald Trump die Blüte seiner Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten und stellte mit seinen Idiotien nicht nur sein Land, sondern gleich die ganze Welt auf den Kopf. An Utopien im Sinne eines gesellschaftlichen Fortschritts, so schien es, war in Amerika für eine ganze Weile nicht mehr zu denken. Dann kam die nächste Wahl und das Ergebnis. Aber auch, wenn die aktuelle politische Wende in den USA wieder zuversichtlich stimmt, bleibt die Lage kompliziert und angespannt. American Utopia, die Platte, das Konzert und neuerdings auch der Film, versuchen dem entgegenzuwirken, Hoffnung zu machen und einen neuen Gemeinschaftssinn heraufzubeschwören. Das ist Byrnes Plan, seine neue Mission, die der mittlerweile 68-jährige einstige Talking-Heads-Frontmann mit Akribie und einem unverkennbaren, locker verstockt aus der Hüfte geschwungenem Repertoire an intelligenten, stets elegant zwischen knackig und sperrig gleitenden Pop-Stücken verfolgt, mit denen er bis heute sein Publikum zu begeistern versteht.

david_byrne_s_american_utopia_2.pngFoto: David Lee/HBO

Byrne, der Musiker, ist ein Individualist, ein Querkopf, und ein Phänomen – ein begnadeter Alleskönner, der Rocksongs, Film-Soundtracks und Opern verfasst, Sachbücher und Kolumnen für die „New York Times“ schreibt, Konzeptkunst macht, ein eigenes Label führt und nebenbei Fahrradständer entwirft. Da scheint es im Nachhinein nur logisch, dass es ihn mit seiner neuen Platte nicht nur zurück auf die Konzertbühne, sondern gleich zum Broadway zog. Und so bespielte er im letzten Winter begleitet von einer elfköpfigen multi-nationalen Band, das allabendlich ausverkaufte Hudson Theatre in New York. Mit Instrumenten um den Bauch, den Hals und über die Schultern gespannt, bewegten sich die Musiker angeleitet von ihrem Meister in streng eingeübten, vertraulich wirkenden, aber immer noch charmant eckigen Choreografien über die Bühne. Ein silberner Perlenvorhang diente dem Geschehen auf der Bühne als spartanische Kulisse. Viel mehr gab es gar nicht zu sehen. Aber jedem, dem das nicht genügte, setzte Byrne gleich zu Beginn das Konzept der Vorstellung entgegen: „We like to look at people most, so this is what this show is about.“ Spike Lee hat ihn dabei beobachtet und schließlich einen Konzertfilm aus dem Event gemacht – sechsunddreißig Jahre nach Jonathan Demmes Stop Making Sense und keine Sekunde zu spät.

Mitte der Achtziger wurde der Talking-Heads-Film, ein Zusammenschnitt von vier Konzertabenden der Band im Pantages Theatre auf dem Hollywood Boulevard, in den USA zum dem Pop-Musikfilm-Ereignis überhaupt und sollte es lange bleiben – „eine Kino-Rockshow mit intellektuellem Touch,“ schrieb „Die Zeit“ damals und hätte es nicht treffender formulieren können. American Utopia, der Film, mag mit einer leiseren Wucht agieren, um heute den Bogen um Byrne, seine Kunst und sein Charisma zu schließen, und doch steckt auch in diesem ungewöhnlichen „Spike Lee Joint“ eine Energie, die sofort ansteckt, und ein wacher Geist, der dem seines Sujets ebenbürtig ist.

david_byrne_s_american_utopia_3.pngFoto: David Lee/HBO

Der Ton, den Byrne zu Beginn der Show mit „Here“ an einem schlichten Tisch sitzend und mit einem Gehirn in der Hand vorgibt, ist ernster, nachdenklicher, reflektierter als früher. Und auch die kleinen Monologe, die er zwischen den Stücken ans Publikum richtet, passen sich dieser sanfteren Grundstimmung an, sind weniger auf Sturm und Drang als auf Aufklärung ausgerichtet. Doch kaum tritt die Band an seine Seite, um die Songs der neuen Platte sowie Talking-Heads-Klassiker und Hits à la Burning Down the House mit reichlich Schwung nach vorne zu drücken, nimmt nicht nur der Rhythmus Fahrt auf, sondern auch die Kamera, ohne das Geschehen auf der Bühne auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Lee filmt frontal, von oben, von der Seite, tritt nach der Vorstellung gemeinsam mit den Performern hinter die Bühne, schwenkt quer durch den Saal, geht wie bei „Bullet“ ganz nah ran und entfernt sich respektvoll, als Byrne das Janelle-Monáe-Cover „Hell You Talmbout“ einleitet – ein Protestsong gegen amerikanische Polizeigewalt, bei dem die Opfer, die darin einzeln mit Namen erwähnt werden, im Hintergrund auf Fotos zu sehen sind. Der Regisseur zieht die Zuschauer auf die Bühne hinauf, lässt sie eintauchen in eine Klangwelt, die zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Sinngebung und Sinnlichkeit changiert.

Am Ende hält Byrne es mit James Baldwin, zitiert zuversichtlich: „I still believe that we can do with this country something that has not been done before.“ Eine Utopie ist eine feine Sache. Auch wenn sie nur ein Traum ist. So wie Amerika. Was bleibt, ist die Realität – und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

 

David Byrne’s American Utopia

Konzertfilm, USA 2020 – Regie: Spike Lee

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