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Eine Frage der Ehre

Text: Pamela Jahn | Fotos: Archiv

Finster ist die Nacht, schwarz und unheilvoll. Strömender Regen erschwert die Orientierung. Nur so viel ist klar: Ein Kampf steht an – einer gegen alle. Eine Stimme aus dem Off führt kurzerhand in die Spielregeln des Kung-Fu ein: „Zwei Worte: horizontal und vertikal. Ein Fehler: horizontal. Handle richtig und du wirst der Letzte sein, der aufrecht steht.” Was folgt, ist eine präzise kalkulierte Einstimmung auf die atemberaubende Kampfkunst-Choreografie (von Yuen Woo-Ping), die sich in den kommenden zwei Stunden immer wieder selbst übertreffen wird – virtuos inszeniert, rigoros durchexerziert. Mit jedem Schlag, jedem Fußtritt, jedem zugekniffenen Auge explodieren die Regentropfen ins Surreale und zelebrieren dabei ihr ganz eigenes Spektakel, dem die Kamera, gerne auch in Zeitlupe, ebenso Aufmerksamkeit schenkt wie der akrobatischen Martial-Arts-Action um den eleganten Herrn im maßgeschneiderten Kampfanzug, der seine Gegner einen nach dem anderen mit Kunst und Kalkül zu Boden zwingt. Kein Zweifel: Das ist unser Mann. Genauer gesagt: Ip Man, der wahre Großmeister der Kampftechnik Wing Chun, hier souverän verkörpert von Tony Leung Chiu Wai als ebenso gewiefter wie durchtrainierter Gentleman, dem die Wasserperlen allein schon voller Ehrfurcht auf der tief sitzenden Hutkrempe zerbersten.

Verdrängen wir zunächst noch für einen Augenblick, dass The Grandmaster, der Eröffnungscoup der heurigen Berlinale, ein Film von Wong Kar-Wai ist, dem großen Virtuosen aus Hongkong, dem viel kopierten, aber letztlich noch immer unübertroffenen Poeten des ostasiatischen Kinos. Worum genau geht es? Erzählt wird die Lebensgeschichte des begnadeten Kampfkünstlers Ip Man, dem Mitte der dreißiger Jahre im Süden Chinas bewiesenermaßen niemand das Wasser reichen kann. Selbst als ihn der anerkannte Großmeister des Nordens, Gong Baosen (Wang Qingxiang) zum Abschluss seiner Amtszeit herausfordert, kann Ip Man sich und sein Können behaupten. Doch beim kurz darauf folgenden Zusammentreffen mit der bildschönen und ungemein flinken Gong Er (Zhang Ziyi), der Tochter Gong Baosens, die darauf bedacht ist, die angeknackste Familienehre zu retten, wendet sich das Blatt – Ip unterliegt im intimen Zweikampf mit der stolzen Kriegerin seinen selbst auferlegten Regeln. Schließlich halten die Japaner Einzug in China, der Bürgerkrieg nimmt seinen Lauf, die Figuren werden auseinandergesprengt. Etliche Rückblenden, persönliche Tiefschläge und turbulente Actionszenen später kreuzen sich die Wege von Gong Er und Ip Man erneut und man versichert einander, was von vornherein in der Luft lag, nämlich dass es da einst eine innige Leidenschaft gab, für die nun aber jede Hoffnung verloren ist.

Es geht also, kurz gesagt, wieder einmal um die Dauer einer auf ewig unerfüllt bleibenden Liebe. Und mit der Dauer (nicht mit der Liebe) hat Wong Kar-Wai mittlerweile so seine Schwierigkeiten. Dabei deutete sich die Problematik mit den virtuos verschränkten Zeit- und Handlungsebenen in 2046 – jenem über-epischen Versuch über Liebe und Erinnerung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – bereits an, nur kommt sie einem jetzt noch einmal gewaltiger, weil grobschlächtiger entgegen. Während es dem heute 54-Jährigen in 2046 noch gelang, die Jahrzehnte auf elegant-verträumte Weise zu einer künstlerisch-melancholischen Gegenwartslosigkeit zu verschmelzen, verstrickt sich The Grandmaster in einer Endlosschleife dramaturgischer Mittel-Höhepunkte, die sich immer hoffnungsloser in Raum und Zeit verlieren, je häufiger die historischen Ereignisse, die das Leben seiner Helden mitbestimmen, fragmentarisch in den Vordergrund gerückt werden. Die stille, ungelebte Zuneigung zwischen Gong Er und Ip Man, der emotionale Kern des Films, verliert darüber viel von ihrer Unmittelbarkeit und jener mitreißenden Kraft, die seine Meisterwerke wie In the Mood for Love (2000), Happy Together (1997) oder Chungking Express (1994) vor allem auszeichnete.

Nun kann man dem entgegenhalten, dass die Gesetze der filmischen Schwerkraft bei Wong Kar-Wai stets ebenso wenig greifen wie die einer zeitlichen Logik. Zudem scheint The Grandmaster nach drei Jahren Drehzeit und mehr als einem Jahrzehnt der Vorbereitung nach dem Ausrutscher My Blueberry Nights so etwas wie die Möglichkeit eines Neuanfangs zu markieren. Aber so unklar die eigentliche Versuchsanordnung den Schauspielern wie dem Regisseur selbst über weite Strecken im Entstehungsprozess des Films war (Wong Kar-Wais Arbeitsstil, seinen Schauspielern das Drehbuch weitestgehend vorzuenthalten, ist berüchtigt), so unweigerlich mag das Erstaunen darüber einsetzen, wie das mit den Erwartungen zusammengeht, die heute an einen Wong Kar-Wai-Film geknüpft sind. Mit The Grandmaster habe der Regisseur sein Werk um eine neue spannende Facette erweitert und einen kunstvollen, bildgewaltigen Genrefilm geschaffen, erklärte Festival-Direktor Dieter Kosslick vor der Premiere des Films in Berlin. Wong Kar-Wai selbst betonte indes auf der Pressekonferenz einmal mehr, er hoffe mit dem Film zwar in erster Linie die verschiedenen Aspekte von dem zu vermitteln, was Martial Arts ist, allerdings gebe es in dieser Hinsicht auch für ihn noch immer einiges zu lernen: „Es gibt im Film eine Szene, in der ein Kind voller Neugier durchs Fenster in die Kampfschule schaut. Dieses Kind, das könnte ich sein, denn als ich jung war, habe ich genau das getan. Und als Filmemacher heißt das für mich jetzt auch, dass ich hier noch ganz am Anfang stehe.“

Es hilft deshalb vielleicht am ehesten, die Erwartungen ausnahmsweise weniger am Oeuvre oder dem wie auch immer skizzierten Image des Regisseurs auszurichten als eben am Genre, dem er sich widmet. Es gilt seit je her als unverzichtbares Credo, dass Martial-Arts-Filme immer von Rache, Gerechtigkeit und Vergeltung und folglich von der Durchführung spektakulärer Kämpfe mit Wucht und Gewalt handeln. Ihre Perspektive ist von Come Drink With Me (1965) über Fist of Fury (1972) bis zu Crouching Tiger, Hidden Dragon (2000) und Hero (2002) die der Kämpfer und Kämpferinnen, und mit ihnen wird jede Auseinandersetzung zur Kopf-, Faust- und Herzensangelegenheit. Zugleich besteht das Wesen des klassischen Martial-Art-Films in der Studie, der Vermittlung nicht nur von Techniken, sondern von Denkweisen, und genau das weiß The Grandmaster. Im Vergleich zu Wong Kar-Wais ersten Gehversuchen in der Kampfkunst-Welt mit Ashes of Time (1994) gewinnt sein zweiter Anlauf vor allem angesichts jener Einsicht an Stehvermögen, sich vielmehr auf das innere Blutvergießen seiner Helden zu konzentrieren. Seine Haltung als Genrefilm besteht darin, dieses Wissen um die emotionalen und philosophischen Dimensionen der Kampfkunst nun keineswegs gewagt doppelbödig auszuspielen, sondern stattdessen den Rahmen so ernst wie möglich zu nehmen. Für The Grandmaster wird das Genre selbst ein Tempel der Erkenntnis, in dem er sich gut genug auskennt, um sich souverän darin zu bewegen. Ein Fehler: Ausgerichtet an atemberaubenden Momenten, hat Wong Kar-Wai es überhaupt nicht eilig beim Verdichten von Situationen, die sich zwar irgendwann entladen, bis es aber soweit ist, wird reichlich lange und bedeutungsschwanger über Ehre und moralische Grundsätze schwadroniert, so dass einem gelegentlich der Wille zum Zuhören und Mitdenken vergeht und man darüber die Spannung vergisst, die andernfalls bis in die Details der erlesenen Tischdekoration reicht.

Tatsächlich gehört The Grandmaster trotz besagter Schwächen noch immer zum Sehnsuchtsvollsten und visuell Feinsten, was das chinesische Kino derzeit zu bieten hat. Wie alle Filme von Wong Kar-Wai ist auch dies ein Film über die Macht des Bildes, das solange übermächtig bleibt, bis es seine eigentliche Bestimmung gefunden hat. Malerische Tableaus, die von fremden Kräften durchwirkt scheinen, bewegt und getragen von einem seelentiefen Strom der Melancholie. Da macht es auch nichts, dass Wongs vertrauter Kameramann Christopher Doyle erneut aufgrund anderer Verpflichtungen absagen musste.

Philippe Le Sourd, der stattdessen die nicht leichte Aufgabe übernahm, führt die Kamera unter dem geschulten Blick des Regisseurs auf ähnlich geschickte Weise zur Breite ihrer Möglichkeiten.

Das schönste unter unzähligen kunstfertigen Bildern zeigt Zhang Ziyis zartes Gesicht in ergreifender Großaufnahme, ihre opiumberauschten Augen brennen sich nachdrücklich in die Leinwand. Es ist ein Bild, das bleibt, und eines, das den weiten Weg seit den neogrellen Anfängen des Regisseurs deutlich macht: The Grandmaster ist auch Ausdruck einer stetigen Entwicklung hin zu einem immer ernsteren, reiferen Tonfall – ein ebenso zulässiger wie natürlicher Prozess. So düster und schwerfällig The Grandmaster zu sein scheint, beschwört er letztlich einmal mehr die Kraft der Liebe im Augenblick. So entpuppt sich das Dickicht aus Geschichtsepos, Melodram und Kung-Fu-Spektakel, in das uns der Film von Beginn an führt, in gewisser Hinsicht auch als das Geflecht zwischen uns und unseren Hoffnungen, die wir an das Kino des Wong Kar-Wai knüpfen. Inwieweit diese Geschichte überladen oder allzu pathetisch ist, inwieweit hier die Kampfkunst zur Abarbeitung an immer gleichen Sujets missbraucht wird, das hängt davon ab, wie weit man gewillt ist, Wong Kar-Wais virtuoser Ästhetik der Schau- und Hörlust zu folgen – einer Ästhetik, die Sehnsucht und Entsagung konsequent und bis zur Maßlosigkeit zelebriert.

The Grandmaster / Yi dai zong shi

Drama/Martial Arts, Hong Kong/China/Frankreich 2013

Regie Wong Kar-Wai Drehbuch Wong Kar-Wai, Haofeng Xu,

Jingzhi Zou Kamera Philippe Le Sourd Schnitt William Chang

Mit Tony Leung Chiu Wai, Zhang Ziyi, Chang Chen

Verleih Thimfilm, 130 Minuten

Kinostart 28. Juni

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