Das Wunderbare am Kino ist, dass manchmal schon die Art, wie einer eine Zigarette zwischen den Lippen hält, genügt, sich in einen Film zu verlieben. Oder wie er aufs Motorrad steigt. Dafür muss der Regisseur kein Genie und der Film keineswegs makellos sein. Obwohl es natürlich hilfreich ist, wenn der Typ mit der Zigarette so gut aussieht wie Ryan Gosling, dessen Gesicht gerade wohl so ziemlich alles verkaufen könnte, was sich mit Werbung anpreisen lässt. Aber dass man für „Handsome Luke“, den Stuntfahrer in Derek Cianfrances The Place Beyond the Pines, sofort Feuer und Flamme ist, hat im Grunde weniger mit Äußerlichkeiten zu tun als mit dem rätselhaften Charisma, das er trägt, wie andere Leute ein ausgewaschenes T-Shirt: unbewusst, entspannt, ohne Absichten. Dabei verkörpert er im Grunde nichts anderes als eine Klischeefigur, die schon viele andere vor ihm zu einer Art Archetyp des Kinos gemacht haben, den klassischen „bad boy“. Oder wie es Cianfrance im Interview mit „Total Film“ formulierte: „The kind of guy 1960s girl groups like The Shangri-Las used to sing about. He’s like a big cat in a small cage: absurd, dangerous and utterly compelling.“ Verstärkt wird das Ganze durch das außergewöhnliche Gespür des Regisseurs für Takt und Atmosphäre, sowie dadurch, dass er Macken und unangenehmen Wahrheiten nicht ausspart. Außerdem lässt er seinen Darstellern die Zeit und den nötigen Freiraum, ihre Ausstrahlung wirkungsvoll auszuspielen. Dass es Cianfrance nicht ebenso konsequent gelingt, die Intensität immer auf gleichem Niveau zu halten und das Potenzial des Drehbuchs voll auszuschöpfen, kann nur gegen den Film verwenden, wer nicht verstanden hat, wie besonders das Verhältnis zwischen dem Filmemacher und seinen Akteuren ist – wovon man sich bereits in der ersten Zusammenarbeit mit Gosling, dem so bestürzenden wie beglückenden Liebesverfallsdrama Blue Valentine (2010), überzeugen konnte.
The Place Beyond the Pines ist in diesem Sinne die logische Konsequenz einer Synergie, die auf Vertrauen und Hingabe beruht. Allerdings mit dem Unterschied, dass Cianfrance diesmal nicht mit mikroskopischem Blick die Dauer einer Liebe in ihre intimsten und schmerzlichsten Augenblicke zerlegt, so dass es mitunter fast physisch weh tut, dem Paar (gespielt von Ryan Gosling und der wunderbaren Michelle Williams) dabei zuzuschauen, wie es seine Beziehung über die Jahre langsam aber sicher gegen den Baum fahren lässt, weil längst der letzte Funke Leidenschaft verglüht ist und es sich nicht anders zu helfen weiß. Mit The Place Beyond the Pines holt der ursprünglich als Werbe- und Dokumentarfilmer bekannt gewordene Regisseur diesmal zum großen Wurf aus: Weniger zurückhaltend und lyrisch als sein Vorgänger, ist der Film auf epische Breite angelegt. Erzählt wird die Geschichte zweier Männer, deren Schicksal auf ewig miteinander verwoben scheint, nachdem sie in einem Moment größter Panik aufeinandertreffen. Gosling spielt den düsteren Außenseitertypen, der zum Bankräuber wird, Bradley Cooper den „good guy“, der ihn zur Strecke bringen soll, und am Ende müssen die Söhne austragen, was die Väter verbockt haben. Mit einer Handlung, die gute 15 Jahre umfasst, und einem Budget, das zehn Mal höher war als bei seinem vorherigen Projekt, hat es sich Cianfrance
keineswegs einfach gemacht, was den Sprung vom Lo-Fi Independent-Kino zum großen Star-Blockbuster angeht. Herausgekommen ist ein Film, der gar nicht leugnen will, dass er von großen Ambitionen getrieben ist, ohne dabei auf Ganzheit und Perfektion abzuzielen, sondern vielmehr aus dem Bauch heraus funktioniert – abwechselnd nachdenklich und ungestüm, aber immer voller Leidenschaft und Respekt für seine Figuren und die jeweilige Situation, in der sie sich befinden. Natürlich ist das kein besonderes filmisches Verfahren, aber eben eines, das der Schaulust und dem Herzen stark entgegenkommt.
Wenn der Film beginnt, gehört er ganz dem übertätowierten, durchtrainierten Luke, wie er schwer atmend und angespannt über den Rummelplatz zu dem Zelt läuft, in dem er kurze Zeit später mit zwei Kollegen seine alltäglichen Runden im „Globe of Death“, einer atemberaubenden Motorrad-Stunt-Show in einem eisernen Käfig, drehen wird. Als er nach der Vorführung den verzauberten Kids Autogramme gibt, taucht plötzlich Romina (Eva Mendes) auf, seine Flamme vom Vorjahr, die er vertraulich Ro nennt. Es dauert nicht lange, bis er erfährt, dass er der Vater ihres einjährigen Sohnes Jason ist, den Ro nun gemeinsam mit ihrem neuen Partner und mit Hilfe ihrer Mutter großzieht. Luke sieht darin die einmalige Chance, für sich und seine zufällig gefundene Familie ein neues Leben zu begründen, und versucht Ro davon zu überzeugen, dass er nicht nur gewillt, sondern auch fähig ist, Verantwortung zu übernehmen. Aber Ro ist realistisch: Sie fühlt sich zu Luke hingezogen, weiß allerdings auch, dass er letztlich zu widerspenstig ist, um tatsächlich für sie und Jason zu sorgen. Und so wie es ist, ist ihr Leben zumindest geregelt.
Doch Luke bleibt hartnäckig. Als ihn sein neuer Kumpel und Arbeitgeber Robin (Ben Mendelsohn) anfixt, seine außergewöhnlichen Fahrkünste für ein paar Banküberfälle einzusetzen, hofft er, damit seine Kreditwürdigkeit bei Ro unter Beweis zu stellen. Das Problem: Nach ein paar gelungen Jobs kann Luke dem Rausch nicht widerstehen. „If you ride like lightning, you’re going to crash like thunder“, warnt ihn Robin, als Luke gleich zwei Banken an einem Tag hochnehmen will. Und schon ist die Erfolgssträhne schneller zu Ende, als einem lieb ist: Luke stürzt bei einer waghalsigen Verfolgungsjagd mit der Polizei und kann sich gerade noch in ein Haus retten, in das sich auch der mutige Streifenpolizist Avery Cross (Cooper) auf eigene Faust vorwagt, noch bevor die angeforderte Verstärkung vor Ort eintrifft. Und einen großartigen Moment lang tun sich all die Möglichkeiten auf, die das Kino für Leute bereithält, die einander gewachsen sind. Doch dieser Augenblick geht vorüber, und ein anderer Film beginnt. Kein schlechter Film, aber eben doch nur eine mehr oder weniger durchschnittliche Geschichte über einen ehrgeizigen Cop, der einen Bankräuber hochnimmt, daraufhin zum Helden der Stunde avanciert, jedoch zugleich unfreiwillig in einen Kampf mit dem korrupten Polizeisystem verstrickt wird, in dem er selbst nur Diener ist. Als ihn der Fall Luke Glanton nach Jahren wieder einholt, nachdem sich Avery längst mit Geschick und Erpressung zum Bezirksstaatsanwalt hochgearbeitet hat, kommt es zwischen den Söhnen der beiden einstigen Rivalen zum Eklat.
In der wenigen Zeit, die ihm zur Verfügung steht, gibt Ryan Gosling alles, ohne dass man wie unlängst bei Gangster Squad den Eindruck hätte, er spiele zwar mit der üblichen Portion Charme, aber mit angezogener Handbremse. Dass da selbst einer wie Bradley Cooper, immerhin einer der derzeit gefragtesten Schauspieler Hollywoods (und nicht weniger attraktiv), demgegenüber vergleichsweise blass und unspektakulär erscheint, kann ihm keiner übel nehmen. Eva Mendes beweist sich einmal mehr als erstaunliche Erscheinung, die auch in weniger attraktiv angelegten Nebenrollen eine beträchtliche Anziehungskraft entwickelt. Luke und Ro sind keinesfalls ein Traumpaar, aber die Chemie, die zwischen ihnen besteht, hält für Augenblicke zusammen, was nicht sein darf und deshalb stets auseinanderdriftet. Und die Tatsache, dass Gosling und Mendes sich bei den Dreharbeiten zum Film auch privat näher kamen, konnte dem Ergebnis auf der Leinwand nur zuträglich sein.
Aber was bedeutet das konkret für einen Film, der seine Handlung zu etwa gleichen Teilen in die Hand zweier gänzlich unterschiedlicher Helden legt? Für den Großteil des Plots spielt Cianfrance mit verdeckten Karten, gibt nur wenige Hinweise und Vorwarnungen, und begründet seine Handlungsfolge mit der allgemeinen Gewissheit, dass das Leben unerbittlich vorwärts treibt, von Generation zu Generation, wobei sich die Narben des Vaters sowie die Verantwortung für sein Tun unweigerlich auf den Nachwuchs übertragen. Und plötzlich, in einem unerwarteten finalen Akt, der alles zu Tage bringen soll, was zuvor im Verborgenen blieb, holt Cianfrance zu einem letzten merkwürdigen Befreiungsschlag aus. Aber man sollte von der Geschichte auf keinen Fall zu viel verraten, vielleicht nur noch so viel, dass Ray Liotta einmal mehr in einer auf ihn zugeschnittenen Nebenrolle als fieser Polizistenkollege brilliert und Dane DeHaan, der Lukes Sohn Jason im Teenagealter spielt, ein Name ist, den man sich merken sollte.
Tatsächlich lässt sich The Place Beyond the Pines vielleicht am ehesten als Autorenfilm denken, der zugleich als Thriller funktioniert – auch wenn sich Cianfrance zum Ende hin möglicherweise zu viel Zeit lässt, um wirkungsvoll Spannung und Emotion zu erzeugen. Es ist vielmehr sein für das Ausmaß der Handlung erstaunlicher Minimalismus – sein überschaubares Figurenensemble, dessen antipsychologische Gestaltung und seine simple, relativ ereignisarme Erzählung – der dem Film seine immense Kraft verleiht: Im Fragmentarischen und Undurchschaubaren liegt eine große Freiheit, und die einzige Chance auf Wahrheit.
Genau diese Offenheit, die auch eine gewisse Blindheit für die Realität mit sich bringt, ist es, die sich Cianfrance zunutze macht. Und so wie Luke für seine Banküberfälle oder Avery Cross für seine Heldentat ganz andere Motive haben, als bloß zu zeigen, dass sie es können, war es Cianfrance natürlich nie genug, einfach nur seine handwerklichen Fähigkeiten vorzuführen. Auch sein Film hat eine Moral, aber sie schiebt sich nicht vor, sondern schreibt sich mal mehr, mal weniger auffällig den Bildern ein. „I had a big choice to make at the end of Pines“, gesteht er. „It could be a story of vengeance, which would be satisfying. Or suicide and hopelessness. Or forgiveness. As a father, I think about what I put out there, and what I wanted to put into the world was forgiveness, not hopelessness.“ Und Cianfrance tut das mit einer Entschlossenheit, die auf 140 Minuten manchmal quälend, aber auch unheimlich faszinierend ist. Und zu sehen, dass er es kann, ist schon ein großes Glück.
The Place Beyond the Pines
Drama/Thriller, USA 2012 – Regie: Derek Cianfrance
Drehbuch: Derek Cianfrance, Darius Marder, Ben Coccio
Kamera: Sean Bobbitt Schnitt: Jim Helton, Ron Patane
Musik: Mike Patton Production Design Inbal Weinberg
Kostüm Erin Benach
Mit: Ryan Gosling, Eva Mendes, Bradley Cooper, Rose Byrne,
Ben Mendelsohn, Ray Liotta, Bruce Greenwood, Harris Yulin
Verleih: Constantin Film, 140 Minuten
Kinostart: 21. Juni