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What's in her mind

Text: Jörg Becker | Fotos: Press

Einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller, der 1948 in Hampshire, England geborene, heute in London lebende Ian McEwan veröffentlichte 2012 seinen bislang letzten Roman „Sweet Tooth“, der jetzt als Neuerscheinung auf Deutsch im Diogenes Verlag Zürich vorliegt, unter dem Titel „Honig“. Auch wenn bislang über eine mögliche Verfilmung dieses Buchs nichts bekannt ist, soll die Neuerscheinung hier Anlass sein, sich einmal den Stoffen McEwans zuzuwenden, die fürs Kino adaptiert oder von ihm selbst in Form von Fernsehspiel-Manuskripten und Drehbüchern verfasst wurden.

Attraktiv und klug, ist die junge Cambridge-Absolventin Serena mit einem Diplom in Mathematik eine gefundene Nachwuchskandidatin für den britischen Inlandsgeheimdienst MI5. Zur Zeit der Handlung, 1972, gehört auch die Kultur zur Sphäre des späten Kalten Krieges, und als MI5 ein Programm zur Förderung von staatskonformen, systemstabilisierenden Intellektuellen startet – Codename: „Honig“ – setzt man die passionierte Vielleserin von Gegenwartsliteratur als Agentin auf einen hochtalentierten Newcomer-Autor an. Ihre Liebe zu ihm, dessen literarische Zirkel sie infiltrieren sollte, beginnt mit der Lektüre seiner Erzählungen (eine Konstruktion, die Ian McEwan Gelegenheit zu eingeschachtelten und glänzend gleichnishaften Stories innerhalb des Romans bietet). Lange kann sie ihre Auftraggeber geheim halten, und auch der Schriftsteller, der zwischendurch, so zeigt sich freilich erst im Nachhinein, von ihrer wahren Identität erfahren hat, lässt nichts durchblicken, bis sich die ganz zu lesende Geschichte, vor und nach ihrer beider Begegnung, schließlich als das Ergebnis seiner insgeheimen, leidenschaftlichen Recherche zum Roman herausstellt – „Honig“.

Erneut beweist sich Ian McEwan als Erzähler mit großem zeitgeschichtlichen Interesse, als Kenner der Ära des Kalten Krieges, diverser Secret Service-Ausformungen, des britischen MI5, MI6 und natürlich auch des CIA. Danksagungen an Historiker wie Tim Garton Ash und bibliografische Angaben im Anhang lassen die Gründlichkeit der Recherche erkennen. Ein Geschehen aus derselben Branche, „Operation Gold”, einer Abhöraktion der Alliierten an der Sektorengrenze Westberlin/DDR Mitte der 1950er -Jahre, bildete schon einmal die historische Story-Basis von „The Innocent“ (1993), darin eingebettet eine auf fatale Weise unmögliche Liebesgeschichte. Geheimdienstliche Aufklärungsaktivitäten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in England, ein versammelter Brain Trust im abgeschirmten Sicherheitsbereich von Bletchley Park, darunter der Mathematiker Alan Turing, die Arbeit am Flugabwehr-Radar und an der kriegswichtigen Enigma-Dechiffrierung, die einen Entwicklungsschub hin zur Rechnertechnik bedeutete, gab das historische Setting von McEwans frühem TV-Script The Imitation Game (1980), dargestellt aus der Perspektive einer jungen Frau (gespielt von Harriet Walter) auf eine rüde Männerwelt des Krieges 1940. Und die sogenannte Suezkrise (oder auch: Sinai-Feldzug; gilt als beginnender Abschied vom Empire Großbritanniens), über die ein BBC-Nachrichtenjournalist mit Karriereambitionen (gespielt von Jonathan Pryce) mitten im Rollback der konservativ-neoliberalen Thatcher-Ära in Großbritannien (Regierungszeit im Prime Ministry: 1979-90) ein populäres Sachbuch verfassen will, ist neben einem amourösen Privatmotiv der Sach-Fokus von The Ploughman’s Lunch (1983), einem TV-Script, das McEwan 1985 als Original-Screenplay veröffentlichte. Ein unmissverständlicher Kommentar zur Zeit. „England under Mrs Thatcher leaves me with a nasty taste“, äußerte in einem Interview der Autor, der sich zu jener Zeit bereits für die atomare Abrüstung engagierte. Als Porträt des Zeitgeistes zeichnet McEwan das überaus ernüchternde, pessimistische Bild eines moralischen wie intellektuellen Niedergangs Englands, in dem man sich der Geschichte nur noch opportunistisch, als Gebrauchsartikel bedient: „There is a great tradition of having sympathetic characters in films, whereas in novels anti-heroes are acceptable: you travel with them. In films you stand outside characters. I suppose it is a pessimistic film; it was meant to be addressed to something of the spirit of the age, and to the way, in which private deceptions and national deceptions are not entirely disconnected.” (McEwan 1983) Auch der zweite Teil von „Atonement“, nachdem der zentrale Akt der Verleumdung, den die dreizehnjährige Briony (Saoirse Ronan) an dem jungen Studenten Robbie (James McAvoy), der ihre ältere Schwester Cecilia (Keira Knightley) begehrt, aus den Tiefen ihres Unbewussten begangen, das Leben aller Beteiligten verändert, zerstört, und für die Urheberin eine lebenslange Reuegeschichte, eben jene Abbitte eingesetzt hat (zu der sich die von Vanessa Redgrave gespielte alternde Briony, inzwischen eine bekannte Schriftstellerin, bekennt), ist Ergebnis von zeitgeschichtlichem Quellenstudium. McEwan suchte etwa im Archiv des Imperial War Museum nach Erinnerungen von Zeitzeugen, die Phase des zweiten Weltkriegs betreffend: zu den Auswirkungen des deutschen Luftkriegs über England, dem Terror der Sturzkampfbomber, zu dem Chaos, das während der überstürzten Flucht britischer Truppen an der Kanalküste bei Dünkirchen herrschte (dessen Schauplatz in Joe Wrights Verfilmung an Hieronymus Bosch denken lässt), zu den Diensten, die Frauen in englischen Städten an der sogenannten Heimatfront übernahmen.

Ian McEwans Prosa fußt auf Realismus, insbesondere dem psychologischen Realismus. Magie und das Übernatürliche interessieren ihn nicht. Saul Bellow („Mr. Sammler’s Planet“, „The Dean’s December“, …), Philip Roth („Portnoy’s Complaint“,…) und John Updike („Rabbit“, …) bilden so etwas wie das Dreigestirn, das ihn seine ganze bisherige Schriftstellerkarriere hindurch beeinflusst hat: „Verbunden fühle ich mich … dem, was psychologisch real ist – der kleine Andruck des Bewusstseins, die Winkel und Launen des Denkens, all das, von dem man, wenn man es bei einem anderen Autor liest und es gut gemacht ist, weiß, dass es sich so verhält. Nicht nur, weil man den Gedanken schon mal selbst hatte, sondern weil der Gedanke so unverwechselbar menschlich ist.“ (The New Republic, 2008)

Das Dunkle und die Gewalt scheinen immer da zu sein, an gewissen Stellen durchzubrechen und ihre Schockwellen durch die Folge der Erzählung zu schicken – am Anfang von „Enduring Love“ („Liebeswahn“), am Ende von „Saturday“, sich aufschaukelnd bis zum getrieben rituellen Mord in „The Comfort of Strangers“(„Der Trost von Fremden“), sogar in Momenten von „Atonement“ („Abbitte“).

Das Werk McEwans, das sich in zeitgeschichtlichen, jüngst vergangenen Atmosphären aufhält, ist erfüllt von Triebspannungen, die sich hinreichend weder als Generationenkonflikte noch als Geschlechterkämpfe bezeichnen lassen. Die britische Ironie seiner Prosa wird immer wieder durch überfallartige, harte Anschläge durchbrochen, von plötzlichem Schrecken, dem Umschlagen in alptraumhafte Seiten, deren Erschütterungen uns mit Kino-Suspense womöglich mehr noch assoziierbar sind als mit seismografisch erzählender Literatur. McEwans Schockmomente arbeiten dem Film zu, gegen die Trennung von Kino und Literatur, ihre Darstellung außermoralischer Phänomene bleibt nicht bloß im Effekt stecken, der gegen die durchdringende Erfahrung des Außermoralischen immunisiert.

Insbesondere das frühe Werk spiegelt Seelenzustände, Bewusstseinslagen und Lebenswelten von Generationen, die aus dem Mittelstand stammen und in rebellischer Subkultur gegen deren Wohlstandswelt heranwuchsen, um sich schließlich selbst zum Nachwuchs jener Schicht zu etablieren. Es geht um die Übergänge von der Kindheit zur Adoleszenz, von Phantasie zur Realitätslogik.McEwans Interesse galt von Anfang an dem Verweilen in Schwellenzuständen, vertrieben aus den polymorph perversen Kindheitswelten, aus Spielräumen, von denen sich zu lösen mit Triebaufschub, Unlust verbunden ist.

Gewalten, unter brüchiger Zivilisationskruste lagernd, können im Nu Regeln und Normen des Alltags sprengen und archaische Elementarzustände zutage fördern. Eine seltsame anarchisch-libertäre Geschwisterutopie in „The Cement Garden“(„Der Zementgarten“) wird durch den Tod der Eltern in einer verödeten Abbruchgegend am Stadtrand ausgelöst und, wie so oft in Erzählungen McEwans, aus der Perspektive eines Heranwachsenden geschildert. Nachdem die verstorbene Mutter, von den älteren Geschwistern als Leiche im Keller versteckt, um die Auflösung des Haushalts und die drohende Trennung voneinander zu verhindern, in dem Zement, den der Vater eingangs zur Komplettplanierung des Gartens angeschafft hatte, mumifiziert ist, entziehen sich die vier Geschwister einen Sommer lang den Zwängen und Normen der Erwachsenenwelt. Durch den Tod wird ein Gegenleben freigelegt. Was sich jetzt ergibt – das Chaos im Haus, das zwanglose Vergehenlassen von Zeit, auch die Verkleidungsneugier des jüngsten Bruders Tom (dargestellt von Ned Birkin, dem jüngsten Sohn des Regisseurs Andrew Birkin), dem die Vorstellung gefällt, angezogen als Mädchen nicht länger der Gewalt der Mitschüler ausgesetzt zu sein – hat mit der Außerkraftsetzung aller konventionellen Moral zu tun, der Durchbrechung von Tabus, als deren größte der Inzest der Erzählerfigur, des fünfzehnjährigen James (Andrew Robertson), mit seiner älteren Schwester Julie (Charlotte Gainsbourg) gelten kann, gleichbedeutend dem Übergang aus der pubertären Phantasie in die sexuelle Sphäre. Ein junger Mann, der die Schwester umwirbt, scheinbar ein Agent der Außenwelt, kommt der Leiche im Keller auf die Spur und sorgt für die Auflösung dieser tabulosen „Insel der Seligen“, aus Revanche dafür, für immer von ihrer intimen Gemeinschaft ausgeschlossen worden zu sein.

Im zweiten Roman McEwans, „Der Trost von Fremden“, begegnet ein englisches Paar (in der Verfilmung von Paul Schrader dargestellt von Natasha Richardson und Rupert Everett) von jenem attraktiven Äußeren, hinter dem sich eine gewisse Leere versteckt, die aus einer zur Gewohnheit gewordenen wechselseitigen narzisstischen Spiegelung herrühren mag, während eines gemeinsamen Ferienaufenthalts in Venedig, in ritualisierter Langeweile und gedehnten Tagesabläufen dem dämonisch abseitigen Triebleben eines am Canale Grande lebenden älteren Paares (Helen Mirren und Christopher Walken), das auf sie eine ambivalente Faszination ausübt. Die Labyrinthe des alten Venedig, zumal wenn man sich ohne Plan in ihnen zu orientieren versucht und jenes Wurzelgeflecht zunächst kaum zu ahnender sexueller Obsession unter der üppigen Ausstattung einer venezianischen Stadtwohnung lagern sich übereinander und amalgamieren in der Vorstellung nur allzu leicht, wobei McEwan das Rätsel hinter den geheimnisvollen Fremden, sadistische Phantasien, deren Triebfundamente aus wiederholten Erzählungen von Familienerlebnissen der Kindheit, Eindrücken eines übermächtigen Vaters und erniedrigender älterer Schwestern im Roman allmählich anklingen lässt. Der ebenso affiziert wie widerwillig empfundene Einfluss der Décadents aus ererbtem Wohlstand beginnt sich subtil auf das englische Touristenpaar auszuwirken, als ungewöhnlich leidenschaftliche Phase innerhalb seiner Urlaubsträgheit, und als die Ferien zu Ende gehen, stößt man noch einmal, wie durch Zufall, auf den Palazzo des unheimlichen Paares, in dessen verhangenem Inneren sich ihnen die Erklärung für deren Obsessionen offen-bart. Doch da sind sie längst schon als Opfer jenes Sadismus ausgewählt und mit zielstrebigem Plan in die Falle des Labyrinths gelockt. Unter der Wirkung einer lähmenden Droge muss die Frau hilflos mitansehen, wie der Mann, dessen Schönheit von Anfang an den Gastgebern Stimulans war, mit einem Rasiermesser, das seine Halsschlagader öffnet, ermordet wird. Zunächst zweideutig gehaltene Indizien, die zu solchem Ende führen, finden sich im Erzählverlauf verstreut, ergeben aber erst ein klares Bild, als es schon zu spät ist. Diese Technik des Suspense, der Hitchcock-Touch, bewirkt, dass solches Finale unwiderstehlichen Schreckens, obwohl unvorhersehbar, nicht unerwartet eintritt. Man ist auf alles gefasst, und zugleich infiziert der Schock schlagartig rückblickend den gesamten Hergang der Geschichte in all ihren Verästelungen.

Der Roman „Enduring Love“ („Liebeswahn“) besitzt einen Anhang, in dem ein Artikel aus der „British Review of Psychiatry“ wiedergegeben ist. Es geht um nähere Erläuterungen zu einer „homoerotische Obsession mit religiösen Untertönen: eine klinische Variante des Clérambault-Syndroms“, einem psychopathologischen Phänomen, das McEwan zur existentiell bedrohlichen Herausforderung seiner Hauptfigur werden lässt, des Ich-Erzählers Joe, der aus seiner Perspektive eines Wissenschaftsjournalisten auf dem Stand der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Ratio immer um Aufklärung bemüht und intellektuell vorwiegend der Evolutionstheorie und der Humangenetik verpflichtet ist. In der Filmadaption ist Joe ein Universitätsdozent, dessen Haltung, dass Liebe reine Biologie sei, seiner Partnerin zunehmend missfällt. Als er in südenglischer Landschaft einen Ballonunfall, indem er rettend zu Hilfe kommen will, mitverschuldet – es ist dieser Schock, mit dem der Roman beginnt – gerät sein bis dahin sehr glückliches Leben mit der attraktiven, deutlich jüngeren Literaturwissenschaftlerin aus der Bahn, denn ein Mitwisser, der offenbar zahlreiche Symptome jenes im Anhang beschriebenen Syndroms aufweist, drängt sich in sein Leben. Wie aus einem „blinden Fleck“ des grausigen Geschehens im ersten Kapitel scheint auf einmal jener Psychopath aufgetaucht zu sein, zunächst übersehen, dann auf traumatisierende Weise präsent und nicht mehr abzuschütteln. In seinen Gegebenheiten weicht der Film Enduring Love erheblich vom Roman ab, die zunehmende innere Erschütterung Joes, im Roman mit fundierten Exkursen, deren angespanntes Bemühen um Rationalisierung, als grandioses, im Film nur angedeutetes introspektives Zwischengeschoss in die Erzählung installiert wird, ist durch einem inzwischen vertraute Momente äußeren Thrills nicht adäquat repräsentierbar. Hinzu kommt, dass der Darsteller des Joe, der amtierende James Bond, Daniel Craig, so überhaupt nicht dem Bild jenes Mannes entspricht, den wir aus McEwans Charakterisierung erwarten. Und so können wir ihm auch nicht abnehmen, dass er auf jene Weise denken würde.

Einem gebannt registrierenden Blick auf offen ausgestellte Gewaltszenarien finden sich wohldosierte Schockmomente in McEwans Erzählungen implantiert, Bilder abgründiger Alltäglichkeit wie greller Bestialität, die mit Plötzlichkeit vorbeihuschen. In der Erzählung „Butterflies“ („Schmetterlinge“) schält sich der banale Horror allmählich durch die ungerührten Beobachtungen der Erzählfigur, der an einem Tag wie vielen anderen, an einem Sommernachmittag sich an den vorangegangenen erinnert, an dem er ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft missbraucht und danach in den Kanal geworfen hat, wo es ertrank. Es ist, man ahnt, begreift erst nach und nach, der unerkannt bleibende Täter selbst, der den Ablauf eines Sexualmords am Vortag in einem öden Londoner Vorort Revue passieren lässt, während er die gleiche Gegend durchquert; die Polizei hatte ihn nur als Zeugen verhört, gleich wird er den Eltern einen Kondolenzbesuch machen. McEwan zeichnet in den unheimlich rührungslosen Beobachtungen seiner Hauptfigur von der Ödnis der Suburbs eine fast unschuldige Sicht der Welt; die Gleichmütigkeit, mit der der Hergang bis zum Sexualmord geschildert ist, erscheint wie die katastrophische Konsequenz beim Spazierengehen beiläufig aufgefasster Brutalitäten wie dieser: „Schwarzer Rauch stand vor uns am Himmel, und als wir um die Biegung kamen, sah ich, daß er vom Schrottplatz kam. Mehrere Jungens standen um ein Feuer, das sie entfacht hatten. Sie waren eine Art Gang, sie trugen alle die gleichen blauen Jacken und hatten die Haare kurzgeschnitten. Soweit ich das beurteilen konnte, trafen sie die letzten Vorbereitungen zum Rösten einer lebendigen Katze. Über ihnen hing der Rauch in der stillen Luft, hinter ihnen dräute der Schrotthaufen wie ein Berg. Sie hatten die Katze mit einem Strick um den Hals an einen Pfahl gebunden (…). Über dem Feuer bauten sie einen Käfig aus Maschendraht, und als wir vorbeikamen, zog einer von ihnen die Katze an einem Strick zum Feuer.“ Für Wolfgang Beckers Schmetterlinge, noch eine Produktion der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB 1987/88), wurde die passende Location in Gelsenkirchen gefunden. Bertram von Boxberg spielt den Ich-Erzähler/Täter als teilnahmslosen, stumpfen Streuner, verleiht ihm ein isoliertes, kontaktgestörtes Persönlichkeitsbild und kommt so der Vorlage sehr nahe. Die Schlusstotale, wie er ganz allein auf dem Bolzplatz den Ball gegen Hauswand tritt, wieder und wieder, wirkt lange nach.

Am Scheitelpunkt des Romans „The Innocent“ („Unschuldige. Eine Berliner Liebesgeschichte“) beschreibt Ian McEwan in einem separaten Kapitel anatomisch genau die Zerlegung einer Leiche mit einer Säge und einem Linoleummesser – zu Transportzwecken. Das beliebte Motiv „Wohin mit der Leiche?“ lässt gleich in mehrfacher Hinsicht (Rope; The Trouble With Harry; Frenzy) an den Meister Alfred Hitchcock denken, auch daran, dass McEwan in den ersten Jahren seiner Autorschaft schon einmal „Ian Macabre“ betitelt worden war. Die Hauptfigur in „The Innocent“, Marnham, ein britischer Nachrichtentechniker (Campbell Scott), der als Spezialist an einem alliierten Spionagetunnel-Abhörprojekt 1955 in Berlin teilnimmt, schleppt die Leichenteile aus der Wohnung seiner Geliebten in zwei großen Koffern in die geheime Tunnelanlage, die man unter die Nachrichtenleitungen der Russen im sowjetischen Sektor gegraben hat, und stellt sie dort ab. Nachdem der Geheimtunnel aufgeflogen ist, wird auch der grausige Fund öffentlich, die Flucht des Briten vom Flughafen Tempelhof ist knapp, und seine Geliebte, die Deutsche Maria (Isabella Rossellini), bleibt neben dem amerikanischen CIA-Mann (Anthony Hopkins), ihr Liebesglück opfernd, zurück (eine Szene, welche die Rezensenten des John Schlesinger-Films unisono das Finale von Casablanca assoziieren ließ, quasi in umgekehrter Bewegungsrichtung, denn hier wird der Held, dem man gerade sein Innenleben herausgerissen hatte, ausgeflogen). Als Drehbuchautor hat McEwan seine Romanhandlung um einen gegenwartsbezogenen Rahmen, die Feieratmosphäre um die Maueröffnung in Berlin, ergänzt; hier trifft sich das Paar, nach einem halben Leben, wieder.

„Einmal, das war bei Innocent von John Schlesinger, habe ich mich dazu hinreißen lassen [am Drehbuch einer eigenen Romanvorlage beteiligt zu sein; J.B.]. Das war ein recht schwieriges Unterfangen, da jeder – der Regisseur, der Bühnenbildner, die Schauspieler, jeder einzelne – seine individuellen Ideen einbringen wollte und sich hineindrängte. Und plötzlich werden Sie von ihrem Thron gestoßen. Da ist es besser, wenn jemand ganz Neues einen Anlauf nimmt.“ (The New Republic, 2008). So wurde Atonement (2007) von Christopher Hampton (u.a. Dangerous Liaisons, 1988), Oscar: Bestes Drehbuch; The Quiet American, 2002); A Dangerous Method (2011; nach seinem Stück „The Talking Cure“) für die Leinwand adaptiert.

Der junge englische Elektronikingenieur gerät ins Zentrum des Kalten Krieges und erlebt seine ersten sexuellen Sensationen im Berlin-Kreuzberger Hinterhof-Milieu. Der gewalttätige Ex-Mann der Geliebten, man raunt von einem Weltkriegshelden, kommt in der Verlobungsnacht aus dem Kleiderschrank ihres Liebesnests, eine Horrorfigur aus einem anderen Leben; gemeinsam erschlagen sie ihn, erst aus Notwehr, dann auch aus Wut, und das Idyll wird zum Ort martialischen Schreckens – als hätte das überwunden geglaubte NS-Deutschland mit der hässlichen Fratze des betrunkenen Ex-Mannes noch einmal sein Haupt erhoben und könne nur mit gemeinsamer schweißtreibender Anstrengung niedergerungen werden (erinnernd an die mühevolle Arbeit des Tötens, die Hitchcock in Torn Curtain veranschaulicht, als es darum geht, einen Stasi-Spion unschädlich zu machen). An der gemeinsamen Erfahrung jenes kooperativen physischen Gemetzels – die komplizenhafte Tötung und Beseitigung der Bestie in der unterirdischen Frontstadt des Kalten Krieges – als Tat wie schicksalhaft notgedrungen auch immer, an jenem dazu erforderlichen, fast übermenschlichen seelischen Aufwand von Selbstüberwindung und Widerstandskraft gegen Schauern des Ekels, zerbricht eine unschuldige Liebe in der frühen, durchlässigsten und feinnervigsten Phase wechselseitiger Entdeckung. Der Blick in die Pathologie, resistent angesichts der Hässlichkeit der Destruktion, richtet sich auf ein Schreckensmotiv, das die Vorstellungskraft jedes Nicht-Mediziners übersteigt und hyperrealistisch in Sehnen, Knochen und Knorpelgeweben hängen bleibt – zähe organische Materie am falschen Ort, eine blutige Masse, die sich dem Verschwinden widersetzt. „Kaum hatte er etwas durchtrennt, stieß er wieder auf einen knirschenden Knochen. Er versuchte nicht hinzusehen, aber das April-Licht offenbarte alles. Der Oberschenkel sonderte eine beinahe schwarze Flüssigkeit ab, die die Säge besudelte. Der Griff war glitschig. Aber er war durch, darunter gab es nur noch Haut. Allerdings konnte er nicht dahingelangen, ohne in den Tisch hineinzusägen. Er nahm das Linoleummesser zur Hand und versuchte, die Haut mit einem sauberen Schnitt zu durchtrennen, aber unter der Schneide runzelte sie sich zusammen. Es blieb ihm nichts übrig, als hineinzugreifen, mit der Hand in die Tiefe des Gelenks, in die kalte dunkle Masse ausgefransten Fleisches einzudringen und die Haut mit der Schneide des Messers zu zersägen.“ Dieser dramatisch-drastische Scheitelpunkt der Geschichte findet in der Verfilmung The Innocent, seltsam penibel herausgelöst, im Off statt, in der abgeschlossenen Wohnung, während im Hof Berliner Milieu-Alltag herrscht. Dann sieht man Maria von innen das Fenster öffnen, gemartert, am Ende, die Luft aufsaugend.

Der für das schottische Fernsehen und Channel 4 gemachte Kurzfilm Solid Geometry beginnt mit schamlos offensivem Sex zwischen dem erfolgreichen Werbemanager Phil (Ewan McGregor) und seiner jungen, hedonistischen Frau Maisie (Ruth Millar), doch alles ändert sich, als Phil die geheimen Tagebücher seines Urgroßvaters erbt und seine Leidenschaft sich obskuren Studien eines mythischen geometrischen Konzepts, der Theorie einer „plane without a surface“ zuwendet, die auf jenen Aufzeichnungen beruhen. Diese Wendung reißt die Ehe auseinander. „Du kriechst auf der Vergangenheit herum wie eine Fliege auf einem Scheißhaufen“ – so flucht die frustrierte Maisie auf ihn, den es nur noch zum Lesen, nicht mehr zum Sex drängt. Eingeschoben sind Flashbacks zu dem Vorfahren, dessen geometrische Grenzfigur zuletzt auch die Frau, als sie quasi experimentell eine bestimmte Sexualposition eingenommen hat, in einer anderen Dimension verschwinden lässt. Eine TV-Adaption der Short Story durch die BBC Ende der 1970er -Jahre scheiterte an einem gewissen Ausstattungsrequisit, das Anstoß erregte: „In Melton Mowbray ersteigerte mein Urgroßvater 1875 bei einer Auktion, auf der Artikel ‚von Seltenheits- und anderem Wert‘ zum Verkauf standen, in Gesellschaft seines Freundes M den Penis von Captain Nicholls, der 1873 im Horsemonger-Gefängnis gestorben war. Er war auf ein zwölf Zoll langes Glas abgefüllt und, wie mein Urgroßvater noch in derselben Nacht notierte, ‚ausgezeichnet erhalten‘. (So der Beginn der auf Deutsch „Geometrie der räumlichen Gebilde“ betitelten, dem Film zugrundeliegenden Erzählung.)

Mehrfach zur Filmvorlage wurde McEwans „Conversation With a Cupboard Man“, geschrieben aus der Ich-Erzählerperspektive, die an einen Sozialarbeiter gerichtet ist: „…mir können Sie nichts Gutes tun“, liest man zu Beginn, „ es sei denn, Sie hören einfach zu. Ich ändere mich jetzt auch nicht mehr, ich bin zu lange ich gewesen. Aber reden tut gut …“ In dem polnischen Film von Mariusz Grzegorzok spielt Rafal Olbrychski den schmächtigen, blutarmen Karol, in die Welt geworfen von einer Mutter, der er für alles im Leben Ersatz bieten muss, den fehlenden, verstorbenen Mann und die vielen Kinder, die sie sich einmal erhofft hatte. So ist er verurteilt, entfremdet von jedem freien Willen, durchweg passiv und vollkommen abhängig, das permanente Kleinkind zu bleiben. Nur im physischen Sinne wächst er heran, doch als die Mutter plötzlich einen Mann kennenlernt, soll der bis dahin klein Gehaltene binnen zwei Monaten wie von selbst erwachsen sein, um schließlich doch von ihr verlassen zu werden. Schockiert von der Außenwelt, auf die er sich notdürftig einlassen muss, kehrt er immer wieder in den Schrank in seinem Mietzimmer zurück, ein privates, abgeschlossenes Reich, sehnsüchtig danach, wieder Kind zu sein. Der Film verzichtet auf jeden Ausdruck von Hass gegenüber der Mutter, gibt dem Ödipus-Motiv Raum und zeigt Referenzen zur Christusfigur. Die Erinnerungen des beschädigten Erwachsenen zeigt der Film, von Voiceover begleitet, in flüssigen Flashbacks. Vereinzelt wurde auf die Affinität dieses Films mit David Cronenbergs Spider (2002) hingewiesen. Hannes Rössler lässt in seiner Kurzfilmversion die Ich-Figur direkt in die Kamera sprechen und setzt Szenen der eingepferchten Kindheitsvergangenheit, als die Mutter „damit beschäftigt war, mich in ihre Gebärmutter zurückzuschieben“, in schwarz-weißen Bildern ab. Vergleichbare Versuche, verlorene Freuden der ersten Lebensphase wiederzugewinnen, finden sich in „The Cement Garden“, „The Child in Time“ und McEwans frühem Fernsehspiel Jack Flea’s Birthday Celebration.

Aus der Titelgeschichte des Sammelbandes, ihrer kürzesten Erzählung, aus dem Jahr 1975, „First Love, Last Rites“ hat der vormalige Musikvideo-Regisseur Jesse Peretz 1997 sein Langfilmdebüt gemacht. Von der englischen Küstenstadt mit Fischereiindustrie ist die Handlung nach Louisiana versetzt worden, in eine Welt tätowierter Fischer, Pfahlhäuser und hoher Luftfeuchtigkeit. Joey aus Brooklyn (Giovanni Ribisi) und Sissel, eine lokale Schönheit (Natasha Gregson Wagner), verbringen die meiste Zeit mit Reden oder Sex, die eingenommenen erotischen Stellungen fasst der Film in Totalen. Für beide, die gerade die High School hinter sich gelassen haben, ist es die erste Affäre, und allmählich schleicht sich Langeweile ein. Zudem ist das kreatürliche Geräusch eines Nagetiers penetrant hinter der Zimmerwand zu vernehmen, dazu liefert der Film unscharfe Traumbilder von der untergründig wühlenden Ratte, einem symbolischen Monster, das sich zur Verkörperung aller Zweifel und Ängste auswächst und im Laufe des Films zur Strecke gebracht wird. In Momenten leerer Zeit beschäftigt Joey bei der Betrachtung Sissels allein die Frage, „what’s in her mind“, und das Rätsel, das der Andere darstellt, so nahe man ihm auch kommt, bleibt unlösbar, wozu die Out-of-time-Musik zu passen scheint.


Filmografie Ian McEwan

Jack Flea’s Birthday Celebration (Mike Newell, UK 1976; TV-Serie Second City Firsts, Season 6, Episode 4, 10. April 1976), Drehbuch: Ian McEwan, publiziert in: „The Imitation Game: Three Plays for Television“. London 1981

The Imitation Game (Richard Eyre, UK 1980), Drehbuch: Ian McEwan, publiziert in: „The Imitation Game: Three Plays for Television“. London 1981

The Ploughman’s Lunch (Richard Eyre, UK 1983), Drehbuch: Ian McEwan, „The Ploughman’s Lunch. The Original Screenplay“, publiziert: London 1985

Schmetterlinge (Wolfgang Becker, BRD 1988) nach der gleichnamigen Erzählung aus dem Band „First Love, Last Rites“ (London 1975; dt.: „Erste Liebe, letzte Riten. Erzählungen“, Zürich 1980)

Soursweet (Mike Newell, UK 1988; Video-EA 1993, UA 1994; dt.: „Chinese Blues“), Drehbuch: Ian McEwan, nach dem gleichnamigen Roman von Timothy Mo (London 1988)

The Comfort of Strangers (Paul Schrader, IT/UK 1990) nach dem gleichnamigen Roman (London 1981; dt.: „Der Trost von Fremden“. Roman, Zürich 1983). Drehbuch: Harold Pinter

The Cement Garden (Andrew Birkin [auch Drehbuch], D/FR/UK 1993; dt.: „Der Zementgarten“) nach dem Roman „The Cement Garden“ (London, New York 1978; dt.: „Der Zementgarten“.

Roman, Zürich 1980).

Rozmowa z czlowiekiem z szafy (Mariusz Grzegorzok, PL1993; „Conversation With a Cupboard Man“), nach der gleichnamigen Erzählung aus dem Band „First Love, Last Rites” (London 1975; dt.: „Erste Liebe, letzte Riten“. Erzählungen, Zürich 1980)

The Innocent (John Schlesinger, US/D 1993; dt.: „…und der Himmel steht still“), Drehbuch: Ian McEwan, nach seinem Roman „The Innocent“ (London, New York 1990, dt.: „Unschuldige. Eine Berliner Liebesgeschichte“. Roman, Zürich 1990)

The Good Son (Joseph Ruben, US 1993; dt.: „Das zweite

Gesicht“), Drehbuch: Ian McEwan

First Love, Last Rites (Jesse Peretz [auch Drehbuch], US 1997), nach der Erzählung aus dem gleichnamigen Band (London 1975; dt.: „Erste Liebe, letzte Riten“, Zürich 1980)

Solid Geometry (Denis Lawson, UK 2002), Kurzfilm nach der gleichnamigen Erzählung aus dem Band „First Love, Last Rites“ (London 1975; dt. „Erste Liebe, letzte Riten“, Zürich 1980); Drehbuch: Ian McEwan, publiziert in: „The Imitation Game: Three Plays for Television“. London 1981

Enduring Love (Roger Mitchell, UK 2004) nach dem gleichnamigen Roman (London 1997; dt.: „Liebeswahn“, Zürich 1998), Drehbuch: Joe Penhall

Butterflies (Max Jacoby, LUX 2005) Kurzfilm nach der gleichnamigen Erzählung aus dem Band „First Love, Last Rites“ (London 1975; dt.: „Erste Liebe, letzte Riten“, Zürich 1980)

Atonement (Joe Wright, UK 2007; dt.: „Abbitte“) nach dem gleichnamigen Roman (London 2001; dt.: „Abbitte“, Zürich 2002) Drehbuch: Christopher Hampton

Schrankmensch (Hannes Rössler u.a., D 2008) Kurzfilm nach „Conversation With a Cupboard Man“ aus dem Band „First Love, Last Rites“ (London 1975; dt.: „Erste Liebe, letzte Riten. Erzählungen“, Zürich 1980)

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