Die Leinwand ist weiß. Nein, grau. Dichte Wolken. Ach was, Nebel ist das. Ein paar Raben kreisen am Himmel. Langsam. Majestätisch. Erwartungsvoll. Noch ist das Unglück nicht geschehen. Noch lässt die Tragödie auf sich warten. Und doch verrät Joel Coen in «seinem» Macbeth gleich in dieser ersten Einstellung, dass hier etwas im Argen liegt. Und wie!
Es ist die alte Geschichte von Aufstieg und Fall. Anfang des 17. Jahrhunderts machte William Shakespeare den historischen König zu Sinnbild des menschlichen Scheiterns: Macbeth, der nach einer siegreichen Schlacht verlockende Prophezeiungen erhält, jedoch bald durch Blut watet, um seinen aufkeimenden Machthunger zu stillen. Seither umschwirren eifrige Regisseure den Text, wie die Motten das Licht – auf der Bühne und im Kino. Nur Othello und Hamlet sind noch öfter verfilmt worden. Auch die ganz großen wie Orson Welles (1948), Akira Kurusawa und Roman Polanski (1971) haben sich an Adaptionen versucht. Kaum sechs Jahre ist es her, dass der Australier Justin Kurzel eine bildgewaltige filmische Neuinterpretation mit Michael Fassbender und Marion Cotillard in den Hauptrollen ablieferte. Von den diversen Theaterproduktion, die es zwischenzeitlich gab, ganz zu schweigen – erst vor wenigen Wochen begeisterten James McArdle und eine atemberaubenden Saoirse Ronan als Lady Macbeth das Londoner Publikum.
Trotzdem ist es von vornherein ein beachtenswertes Ereignis, wenn einer wie Joel Coen sich an den Text wagt. Mehr noch, wenn erste Kritiken bereits verheißen, dass der 1954 geborene US-amerikanische Regisseur, der hier erstmals ohne seinen großen Bruder hinter der Kamera steht, in Shakespeare einen würdigen neuen Partner für seine erste Soloarbeit gefunden zu haben scheint. Und doch bleibt die Frage berechtigt: Warum um alles in der Welt sollte es ausgerechnet dieser Stoff sein? Coen selbst hat die Antwort sofort parat: „Ich finde The Tragedy of Macbeth hat vieles vorweggenommen, was die Literatur später immer wieder aufgegriffen hat. Es geht um ein Ehepaar, das eine Verschwörung zum Mord plant. Das ist James M. Cain vom Feinsten. Und mit der ganzen Hexenkunst und Zauberei steckt zudem jede Menge Horror darin. Es gibt all diese Affinitäten zum Genrekino und auch Ähnlichkeiten zu dem, was ich bisher mit meinem Bruder gemacht habe, lassen sich darin erkennen.“
Tatsächlich ist dieser neue alte Macbeth mehr als die Summe seiner Teile: Machtspiel, Schattenspiel, Thriller, Drama und Horrorszenario – Coen unterlegt die klassischen Verse der Vorlage mit betörenden Aufnahmen und schafft ein modernistisch minimalistisches zeitloses Meisterwerk. Zum einen beschwören seine imposanten schwarzweißen Bilder die düstere Magie des Expressionismus herauf: die Werke von F.W. Murnau und Carl Theodor Dreyer lassen grüßen und der Regisseur scheut sich in keiner Szene davor, sie ehrfürchtig auf der Leinwand zu zitieren. Aber damit nicht genug. Wo die barocke Architektur der schottischen Steinburgen imponiert, stielt ihr die kluge Beleuchtung von Bruno Delbonnel bei jeder noch so flüchtigen Gelegenheit die Show. Und auch im Freien beeindruckt seine Kameraarbeit ungemein, etwa wenn dicke Nebelschwaden, die sich kaum lichten wollen, ganze Landschaften verschlucken und manches Unheil verhüllen.
Erwartungsgemäß herausragend sind Denzel Washington und Frances McDormand als das verhängnisvolle Paar, das sich im mittelalterlichen Schottland seinen Weg an die Spitze mordet. Er macht die Dramatik, aber auch die Schizophrenie seiner Figur fühlbar. Sie, die wie keine andere für die Rolle geboren wurde, bringt ihre häusliche Autorität und eine beinahe militärische Härte ins Spiel, wenn es darum geht, ihren Gatten davon zu überzeugen, dass der König (Brendan Gleeson) sterben muss. Oftmals ruht die Kamera geduldig auf den Gesichtern, lässt die Worte wirken, während jede noch so kleine Bewegung, jede unscheinbare Geste einen unleserlichen Code zur Entschlüsselung ihrer Gedanken transportiert. Und dann, als er, der große Macbeth, blind vor Angst, Schuld und dem ganzen heranreifenden Wahn in seinem fanatischen Tun eskaliert, bleibt ihr nur sich ganz und gar in die Verzweiflung zu stürzen.
Coen, der hier weniger inszeniert als selber genüsslich und im besten filmischen Sinne zu intrigieren scheint, hat an der Bearbeitung von Shakespeares Stück eindeutig großen Spaß. Nichts ist realistisch in seinem Film. Das Theatrale, der Text, die Kunst ist das, was zählt. Sein Alptraum von Machtgier und Gemetzel ist so krass, so surrealistisch und so hochkonzentriert, dass es einem beim Anblick des Geschehens noch eisiger den Rücken runterläuft als sonst. Die Brillanz der schauspielerischen Leistungen – im Übrigen von dem kompletten Ensemble – machen den Kälteschock perfekt. Zudem sorgt die Schärfe, mit der sich jene monochrome Welt voller Gewalt und Schuld in die Netzhaut brennt für den gewünschten Kontrast. Tag und Nacht, hell und dunkel werden zu einem einzigen Fluchtpunkt, der in der Ewigkeit liegt.
Am Ende kommen wieder die Raben. Diesmal ist es eine ganze Schar. Der Nebel hat sich verzogen, aber der Sonne gelingt es dennoch kaum, sich durch das Schwarz des Vogelschwarms zu brechen. Macbeths Zeit ist abgelaufen, wieder einmal, bis zum nächsten Mal. Coen weiß das wohl, seine Besetzung auch. Trotzdem geben sie alles. Allein die Hälfte wäre schon sensationell gewesen.
THE TRAGEDY OF MACBETH
Drama – USA 2021
Regie/Drehbuch: Joel Coen, basierend auf dem Theaterstück von William Shakespeare
Kamera: Bruno Delbonnel, Schnitt: Lucian Johnston, Musik: Carter Burwell, Ton: Craig Berkey, Ausstattung: Stefan Dechant, Kostüm: Mary Zophres
Mit: Denzel Washington, Frances McDormand, Bertie Carvel, Alex Hassell, Corey Hawkins, Harry Melling, Brendan Gleeson
AppleTV+, 146 Minuten
Ab 25.12. im Kino. Ab dem 14. Jänner 2021 auf AppleTV+ abrufbar.