Alice Schwarzer ist spät dran. Sie eilt ins Studio, begrüßt ihre Gesprächspartnerin kurz und knapp („Guten Tag. So schauen sie aus.“), beide setzen sich – und Schwarzer feuert gleich los. Sie hat eine Wut im Bauch und wichtige Fragen, die ihr unter den Nägeln brennen. Esther Vilars Buch Der dressierte Mann war wenige Jahre zuvor erschienen. Die Autorin behauptete darin, nicht Frauen, sondern Männer seien das unterdrückte Geschlecht. Für Schwarzer war der Fall klar: „Es war der nackte Sexismus und total indiskutabel,“ erinnert sie 2020 in einem Interview mit dem „Spiegel“. Aber nicht nur die engagierte Journalistin war empört über Vilars provokanten Text: „Die Sendung wurde zum Skandal, weil ich nicht professionell cool argumentiert, sondern meine Betroffenheit und Verletztheit als Frau thematisiert habe. Damit konnten sich Millionen Frauen identifizieren.“
Ausgestrahlt wurde das 45-minütige Streitgespräch, das drei Wochen zuvor im Fernsehstudio des WDR aufgezeichnet worden war, am 6. Februar 1975 im Nachmittagsprogramm des Senders – und es ist wichtig, dieses Datum zu vermerken, nicht nur, weil ausgerechnet an dem Tag Weiberfastnacht war, sondern weil sich danach alles änderte in Schwarzers Leben. Sie wurde zu einer öffentlichen Person – zur „Feministin vom Dienst“.
Seitdem hat sich an ihrem Status wenig geändert. Bis heute prägt Alice Schwarzer als Ikone und erste Stimme der zweiten Frauenbewegung den Diskurs um Geschlechtergerechtigkeit und polarisiert mit ihren Aussagen und Positionen. Das Kluge und das Emotionale gehen bei ihr stets Hand in Hand. „Es geht um die Vermenschlichung von Männern und Frauen“, ist so ein klassischer Schwarzer-Satz. Klar, kompromisslos, auf den Punkt gebracht. So verteidigte sie ihre Positionen bereits in den siebziger Jahren. 1975 veröffentlichte sie selbst ihre ersten Bestseller Der kleine Unterschied und seine großen Folgen über die sexuelle Unterdrückung der Frau. Viele weitere sollten folgen, dazu eine Zeitschrift sowie eine zweibändige Autobiografie. Mittlerweile hat sich das Themenspektrum erweitert, vor allem ihre Kritik am politischen Islam ist gegenwärtig ein Bereich, der ihr in der Öffentlichkeit den meisten Gegenwind beschert. Dabei ist Schwarzer in ihrer Argumentation stets dieselbe geblieben: unangepasst, angstfrei und verantwortungsbewusst.
Davon zeugt auch Susanne Derflingers Film, der schlicht und einfach so heißt, die die Person, um die es geht. Im Zentrum der Dokumentation, die unlängst mit dem Großen Diagonale-Preis in der Kategorie Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, stehen die Debatten und Kontroversen, die Schwarzer über die Jahrzehnte ausgelöst hat. Auch ihr Porträt setzt mit dem Streitgespräch mit Vilar ein. Gleichzeitig forscht die Regisseurin immer wieder der Privatperson nach, die hinter der öffentlichen Projektionsfläche, dir sie bietet, sonst eher im Schatten steht. Alice Schwarzer, die Journalistin, die Aktivistin, Gründerin und Herausgeberin der Zeitschrift „EMMA“, so kennt man sie. Nur selten sprach sie selbst über die Frau, die dahintersteht. Erst die Veröffentlichung von Lebenslauf, dem ersten Teil ihrer Autobiografie, sollte das ändern. 2020 folgte der zweite Teil. Derflingers Film konzentriert sich jedoch lieber darauf, zwischen den Zeilen zu lesen und die große Schwarzer in den kleinen Momenten zu zeigen, die sie nahbar, die sie menschlich machen.
Eine ähnliche Strategie hatte die Regisseurin bereits für ihr Porträt Die Dohnal über die österreichischen Feministin und Politikerin Johanna Dohnal (1939–2010) verfolgt, die als Staatssekretärin für allgemeine Frauenfragen ihre politische Karriere begann und 1990 die erste Frauenministerin Österreichs wurde. Hier wie dort verhandelt sie zwischen aufschlussreichen Archivaufnahmen die öffentliche im Zusammenhang mit der privaten Person, lässt unter anderem auch die Lebensgefährtinnen ihrer Heldinnen zu Wort kommen. Hier wie dort zeigt sie mehr als lediglich die historischen Abrisse zweier bewegter Leben im Kampf für Gerechtigkeit und die Gleichstellung von Frauen und Männern. Doch es ist Schwarzers offene und eigenwillige Art, ihr Empörungsvermögen, der Spaß an der Provokation und ihr oftmals herrlich bissiger Humor, der „ihrem“ Film die besondere Würze gibt. Ein Ausschnitt aus der Talk-Show „Freitag Nacht“ des Sender Freies Berlin (SFB) aus dem Jahr 1988, in der sie den Schauspieler Klaus Löwitsch ungeniert vor seinen Augen imitiert, gehört zu den vielen wunderbaren Szenen, die das belegen …
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ALICE SCHWARZER
Dokumentarfilm – Österreich, Deutschland 2022
Regie/Drehbuch: Sabine Derflinger; Kamera: Christine A. Maier,
Isabelle Casez; Schnitt: Lisa Zoe Geretschläger; Musik: Gerald Schuller
Ton: Andreas Hamza, Benedikt Palier, Tobias Gerlach, Armin Siegwarth