Wenn Joseph Mallord William Turner zum ersten Mal ins Bild schlurft, kann man schwer glauben, dass dies jener William Turner sein soll, der zu den bedeutendsten englischen Malern des 19. Jahrhunderts gehört und bis heute wohl der bekannteste britische Maler überhaupt ist. Schwerfällig und mit animalischem Blick macht er sich Weg, poltert in sein Atelier, schiebt grummelnd seine Utensilien zurecht, öffnet die Fensterläden und zückt mürrisch den Pinsel nachdem er sich mehrmals nebenbei an seiner Haushälterin Hannah (Dorothy Atkinson) vergriffen hat, die ihm aufopfernd und gehorsam auf Schritt und Tritt folgt. Sobald jedoch der erste Lichtschein ins Zimmer fällt, ist jeder Zweifel behoben: Turner ist ein Meister seiner Kunst, einer Kunst, der es im klassischen Sinn darum ging, das Gesehene möglichst authentisch, explizit und atmosphärisch dicht auf die Leinwand zu zaubern. Turner bediente sich einer über Jahre und Jahrzehnte erarbeiteten und kultivierten Malweise – seine Königstechnik war die Wasserfarbenmalerei – die im positiven Sinne virtuos erscheint und zu seinem Markenzeichen wurde als dem Chronisten von sublimen Landschaften und symbolträchtigen Katastrophen schlechthin, oder wie Turner es selbst am besten formulierte: „Atmosphäre ist mein Stil.“
Mike Leighs Mr. Turner, der den Maler in der zweiten Hälfte seines Lebens porträtiert, ist ein besonderes Stück Kino. Es ist ein historischer Film über den Künstler und seine Persönlichkeit – und zugleich ein Film über die Zeit, der zu verstehen gibt, inwieweit Turners Auseinandersetzungen mit einer turbulenten Gegenwart und seine Malweise einander bedingen. Ein Ensemblefilm par excellence, getragen von einer souveränen Schauspielerriege um Timothy Spall als mürrisch-wortkargem, in verschiedenen Tonlagen grunzendem, so trockenem wie penetrant pflichtbewusstem Exzentriker. Und es ist ein Film, der Turners bevorzugte Landschaftssujets, sein Gespür für Raumillusion, Farben, Lichtsetzungen und dramatischen Konstellationen seiner Motive wiederbelebt, und der zugleich mit diesen Formen, Farben und Tönen schönstes, bewegendes, physisches Kino macht. Es handelt sich gewissermaßen um eine Doppelbelichtung der abenteuerlichsten Art und um eine filmische Hommage, die es in sich hat.
Nicht weniger spannend sind die Parallelen zwischen Schöpfer und Geschöpf im Hinblick auf den Regisseur, der es sich zum Wunsch gemacht hat, Leben und Werk des 1775 geborenen Künstlers fürs Kino zu beleuchten. Auch Mike Leigh, einer der bekanntesten britischen Filmemacher, hat sich seit seinem ersten Spielfilm Bleak Moments (1971) immer weiter und zielstrebiger in Richtung Licht und Lebensgier bewegt, nicht zuletzt um der sozialen Finsternis im England der Thatcher-Jahre und der schwierigen Zeit danach entgegenzuwirken.
Vollständiger Artikel in der Printausgabe.
Mr. Turner – Meister des Lichts
Biopic/Drama, Großbritannien 2014
Regie, Drehbuch Mike Leigh Kamera Dick Pope
Schnitt Jon Gregory Musik Gary Yershon
Production Design Suzie Davies Kostüm Jacqueline Durran
Mit Timothy Spall, Ruth Sheen, Lesley Manville, Dorothy
Atkinson, Paul Jesson, Marion Bailey, Martin Savage
Verleih Filmladen, 150 Minuten
Filmstart 21. November
www.turner-derfilm.de