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Der Drahtzieher

Guillermo del Toro zieht die Fäden der legendären Holzpuppe Pinocchio in einem atemberaubend schön animierten Stop-Motion-Film.

© Netflix

Carlo Collodis Klassiker erfreut sich ungebrochen großer Beliebtheit und derzeit wieder großer Adaptionslust (Pinocchio, 2019, R: Matteo Garrone; Pinocchio, 2022, R: Robert Zemeckis). Auch Guillermo del Toro hegte bereits vor vielen Jahren den Wunsch, das moralphilosophische Lehrstück um den Holzjungen zu verfilmen. Nun ist sein Pinocchio endlich zum Leben erwacht und sogar noch ungewöhnlicher geworden, als man ohnehin vermuten durfte.
Der alte Gepetto erschrickt zunächst vor dem Geschöpf, das er im Zuge eines Alkoholrauschs des Nächstens geschreinert hat und das nun energetisch durch die Werkstatt springt. Sogleich stört die hölzerne Kreatur auch einen Gottesdienst im Ort, die Mitmenschen sind schockiert. Man mahnt den abermaligen „Vater“, der seinen leiblichen Sohn Carlo durch eine Fliegerbombe verlor, den sonderbaren Knaben nur rasch Disziplin und Gehorsam zu lehren. Zunächst scheint der aufgeweckte Wunderknabe auch gewillt, den Alten stolz zu machen, doch am Weg zum Schulunterricht lockt der zwielichtige Karnevalsdirektor Graf Volpe mit einem unwiderstehlichen Angebot aus Star-Dasein, Eiscreme und heißer Schokolade. Die allseits bekannten Schwierigkeiten können beginnen: Die Schulden beim Bösewicht entzweien Gepetto und Pinocchio; Letzterer macht sich auf, sie zu begleichen. Doch del Toro verlässt hier die Pfade der literarischen Vorlage – sowie der zahlreichen filmischen, die ihnen meist doch recht brav folgen – und schreibt dem unerschrockenen Knaben eine für ihn als Regisseur typische Geschichte auf den Holzleib.


Wie schon in Pan’s Labyrinth (2006) sprießt der märchenhafte Stoff um eine kindliche Hauptfigur mitten im grausamen Setting des Faschismus. Pinocchio reist mit einer Propaganda-Show durch Italien und alle fiebern dem Ende der Tour entgegen: Der Duce höchstpersönlich soll die Sensation der lebendigen Puppe bewundern. Der grimmige Bürgermeister will aus dem animierten Geschnitzten indes lieber den perfekten Soldaten machen – denn Pinocchio kann, wie sich herausstellt, nicht sterben, da er nicht menschlich ist. In den Schlund des berüchtigten Seemonsters und damit scheinbar wieder einem erwartbaren Ende entgegen führt die Reise also über einige Umwege. Die jedoch sind nur nicht kurzweilige, mit viel Musik untermalte Schnörkel, sondern schöpfen das Potenzial des Stoffes überraschender aus als je zuvor – als Plädoyer für einen gesunden Ungehorsam, durch die Stop-Motion-Optik in einer Gesellschaft vorgetragen, in der das Marionettenhafte der Menschen auch formal betont ist.

Filmstart: 9. Dezember 2022 auf Netflix

 

| | Text: Jakob Dibold
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