Nan Goldin hat die Opioid-Krise überlebt. „Ich bin nur knapp davonkommen“, sagt sie selbst. „Ich bin aus der Dunkelheit mit voller Geschwindigkeit in die Welt gerannt.“ Und ihr Kampf gegen die Droge gibt Aufschluss darüber, wie die Künstlerin auch sonst im Leben steht: immer voll, immer ganz, immer hautnah. Sie war von dem Medikament drei Jahre lang abhängig, nachdem es ihr zur Behandlung nach einer Operation verschrieben wurde. Seit ihrem erfolgreichen Entzug 2017 organisierte sie in weltbekannten Museen Protest-Performances gegen des Pharmakonzern Purdue und seine Besitzerfamilie Sackler, die in ihrer Dauersammlung zwar Bilder von ihr zeigen, aber auch von den Spenden der Sacklers – oder: dem „Blutgeld“, wie Goldin die finanziellen Zuschüsse nennt – profitierten.
„Sacklers lie, people die“ war eine der Protestparolen, mit der Goldin und ihre Aktivistengruppe „Prescription Addiction Intervention Now“ (P. A. I. N.) 2019 im Metropolitan Museum in New York für Aufruhr sorgte. Sie verstreuten hunderte gefakte Oxycontin-Pillendosen mit der Aufschrift „Extrem süchtigmachend, tötet …“ in einer Ausstellungshalle des opulenten Baus. Anschließend warfen sich die Künstlerin und ihre Mitstreiter zu Boden, widerständig, regungslos. Die Besucher waren verstört, die Sicherheitskräfte alarmiert.
Die US-amerikanische Filmemacherin Laura Poitras, die mit ihren Arbeiten zu WikiLeaks und Edward Snowdon bekannt wurde, hat die beeindruckende Aktion an den Anfang ihres filmischen Porträts über Goldin gestellt, für die sie in diesem Jahr verdient mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnet wurde. All the Beauty and the Bloodshed bewegt sich in einem faszinierenden Zwischenreich von Dokumentation und Fiktion, Kunst und Aktion, Intimität und Öffentlichkeit, ohne jemals das Wesentliche im Werk von Goldin aus den Augen zu verlieren. Kaum einen Steinwurf vom Festivalgelände auf dem Lido entfernt zeigte die Kunstbiennale Goldins 16-minütige Videoarbeit „Sirens“, einen Found-Footage-Film, der um das erste afroamerikanische Supermodel Donyale Luna kreist, das 1979 an einer Überdosis Heroin starb. Und die Parallele ist treffend: Die 1953 in Washington D.C. geborene Fotografin wollte eigentlich immer selbst Filmemacherin werden. Ihre Diashows sind in Wirklichkeit Filme aus Standbildern.
Den Beweis liefert ihr neues Buch „This Will Not End Well“ (Steidl), das im Rahmen der gleichnamige Retrospektive und Tournee entstanden ist, die vom Moderna Museet in Stockholm organisiert wurde und dort noch bis zum kommenden Februar präsentiert wird. Zu sehen sind fast ein Dutzend Diashows und Filme, die Goldin aus Tausenden von Fotos, Filmsequenzen, Tonbändern und Musikstücken selektiert und in Zusammenarbeit mit der Architektin Hala Wardé zu einer Gesamtinstallation neu konzipiert hat.
Ausstellung, Buch und Film setzen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte und zeichnen doch ein einheitliches Bild dieser Ausnahmekünstlerin, die seit je her am Rand der Gesellschaft und des Kunstbetriebs nach eigenen Regeln agiert. Aufnahmen von Sex und Drogenmissbrauch machten sie in den 1980ern weltberühmt. Goldin, und das ist das Faszinierende an ihrer Kunst, schöpfte für ihre Arbeiten stets aus dem eigenen Leben – brutal, ehrlich und roh. Mit ihrer Fotoreihe „The Ballad of Sexual Dependency“, die in Poitras Dokumentation den künstlerischen Hintergrund bildet, wurde sie in der Kunstszene über Nacht zum Star. Wenn Goldin sich nicht selbst fotografierte, waren es ihre Freunde aus der New Yorker Demimonde, die ihrer Kamera oft misstrauisch, aber stets direkt gegenüberstanden. Ob Süchtige oder Stricher, Transvestiten oder Prostituierte, sie alle hatten einen Platz in Goldins Herz und lieferten bestürzende Motive für ihren unerbittlichen Blick – in Bars und Clubs, in Schlaf- und Badezimmern, beim Abhängen, beim Sex, beim Drogenkonsum. Ihr intimen Arbeiten hinterfragten und definierte neu, was Fotografie sein kann – ein Spiegel des Selbst, ein Spiegel der Welt.
Kein Porträt von ihr könne vollständig sein ohne die Menschen, die sie liebt, und ohne das, was sie umgibt, hat Goldin einmal gesagt. In „This Will Not End Well“ formuliert sie ihre Beziehung zur Welt so: „Wenn man lange Zeit vergisst, jemanden anzuschauen, der einem nahe steht, und plötzlich schaut man hin und es ist eine Offenbarung. Es ist ein altes Gesicht, aber ein neues Gesicht.“ Laura Poitras Film greift den Kern dieser Aussage – und ihrer Kunst – auf, komponiert ein bewegendes und zugleich äußerst respektvolles Porträt, in dem neben ihrem unermüdlichen Kampf gegen die Doppelmoral der Kunst auch Goldins Kindheit, ihr besonderes Verhältnis zu ihrer Schwester, sowie ihr langjähriger Einsatz gegen die Marginalisierung der AIDS-Opfer zum Tragen kommt.
Mit ihrer Dokumentation All the Beauty and the Bloodshed hat Laura Poitras in diesem Jahr den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen. Im Interview spricht sie über ihre Zusammenarbeit mit Nan Goldin, gemeinsame Motive und warum ihr Aktivismus so wichtig ist.
Lesen Sie das Interview mit Laura Poitras
ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED
Dokumentation, USA 2022 – Regie Laura Poitras
Verleih Polyfilm, 113 Minuten
Filmstart 25. Mai 2023
Nan Goldin
This Will Not End Well
Moderna Museet, Stockholm
Steidl, Göttingen
216 Seiten, 374 Abbildungen