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Familie, Kino, Liebe

Steven Spielberg blickt in „The Fabelmans“ auf sein Heranwachsen zurück und erzählt von der schaurig-schönen, ewigen Magie des Laufbilds – unter anderem.

Eines Tages steht Onkel Boris vor der Tür, das schwarze Schaf der Familie, der Typ, der mit dem Zirkus durchgebrannt ist. Er wird bei seinem halbwüchsigen Neffen Sammy einquartiert, dem er sogleich ein paar Wahrheiten beibringt; unter anderem die, dass die Kunst so gefährlich sei wie das Maul eines Löwen. Wer dazu nun Jaws assoziiert, liegt nicht daneben. Sammy träumt vom Filmemachen und erzählt wird dieser Traum in The Fabelmans von Steven Spielberg. Das Familiendrama wurde siebenfach für den Academy Award nominiert, darunter Bester Film, Beste Regie und Bestes Drehbuch. Spielberg hat eh schon drei Oscars im Schrank, zwei für Schindler’s List (1993, ausgezeichnet als Bester Film und für Beste Regie) und einen für Saving Private Ryan (1998, Beste Regie); dazu gesellen sich unzählige weitere Nominierungen sowie der Irving G. Thalberg Memorial Award. Den erhielt Spielberg bereits 1987, da war er 41 Jahre alt und hatte mit Jaws (1975), Close Encounters of the Third Kind (1977), Raiders of the Lost Ark (1981) und E.T. the Extra-Terrestrial (1982) mehr Meilensteine des Unterhaltungskinos gesetzt als andere Regisseure in ihrer gesamten Laufbahn. Und wie wir alle wissen, war mit den Meilensteinen da lange noch nicht Schluss.
Die nie um etwas Zitierfähiges verlegene Wikipedia bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Mit seinen Filmen spielte Spielberg bisher mehr als zehn Milliarden US-Dollar ein und gilt als kommerziell erfolgreichster Regisseur der Welt.“
Unnötig zu sagen, dass er auch genau aus diesem Grunde von der Kunstkino-Fraktion gehasst oder doch wenigstens mit profundem Mißtrauen beäugt wird. Spielbergs Jaws gilt als erster Blockbuster der Filmgeschichte und er und George Lucas – der 1977 mit Star Wars noch einen draufsetzte und mit dem zusammen er das Indiana Jones-Franchise entwickelt hat – als Verursacher der Durchkommerzialisierung der kalifornischen Filmindustrie und Totengräber von New Hollywood. Einerseits.

Andererseits ist Steven Spielberg auch einer der ganz großen Geschichtenerzähler, einer, der mit Feuer und Flamme bei der Sache ist, ein Berufener, der hieniden auf Erden einen Auftrag zu erfüllen hat und den nichts und niemand auf- und davon abhält, Unterhaltungsfilme mit Niveau zu drehen. Kommerzialisierter Mainstream hin und moralische Entrüstung übers Geldscheffeln her ändert das nämlich auch nichts an der Tatsache, dass es in den Cineplexen dieser Welt weitaus dümmere Filme gibt als jene von Steven Spielberg. Denken wir beispielsweise an David Wark Griffith, einen anderen Giganten der Kinematografie; der hat die Mittel der filmischen Narration revolutioniert, um sich den peinsam anzusehenden, rassistischen Stuss Birth of a Nation (1915) zuschulden kommen zu lassen. Da lässt man sich doch lieber von Spielbergs Amistad (1997) und Lincoln (2012) mit der Schweinerei der Sklaverei bekannt machen. Und auch wenn der Hang des Regisseurs zur großen Geste, allzuviel Pathos und übermäßig Sentiment einem schon so manches Mal nicht die Tränen der Rührung in die Augen, sondern den Schweiß des Entsetzens auf die Stirn getrieben hat, führt doch kein Weg daran vorbei: „Nachhause telefonieren …“ und „You’re gonna need a bigger boat!“ haben in den allgemeinen Sprachschatz Eingang gefunden. Jurassic Park (1993) ist der ultimative Dino-Film. Stanley Kubrick kann froh sein, dass Spielberg sich seines letzten Projektes angenommen und A.I. – Artificial Intelligence (2001) ein Herz eingepflanzt hat. Munich (2005), Bridge of Spies (2015) und The Post (2017) sind herausragende Politthriller und die Anfangssequenz der Landung an Omaha Beach in Saving Private Ryan hat Maßstäbe in Sachen Darstellbarkeit des Krieges gesetzt. Schindler’s List lassen wir jetzt mal weg, weil mit dem ein noch ganz anderes Fass aufgeht und das würde dann doch den gegebenen Rahmen sprengen. Ohnehin stehen hier eigentlich die Fabelmans zur Debatte.
Im Zusammenhang mit den Oscar-Nominierungen stand neulich irgendwo zu lesen, dass es ja schön und gut sei, wenn Spielberg Mitte März noch einen weiteren Oscar Nachhause tragen könnte/dürfte, aber dann doch bitte nicht für einen derart langweiligen Film. Langweilig. Langweilig? Mit Verlaub, ich bin sicher nicht die einzige, für die sich die zweieinhalb Stunden, die The Fabelmans dauert, anfühlen wie nichtmal eine. Von mir aus könnte der Film, wenn er zu Ende ist, genausogut erst richtig losgehen. Ewig würde ich im Kino sitzen und mir von Spielberg Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend erzählen lassen.

Der Mann geht schließlich auf die Achtzig und ist sich über seine Bedeutung für die Kunst des Laufbildes (US-amerikanischer Ausprägung) sicher nicht im Unklaren – da darf man dann schon der Meinung sein, etwas mehr als nur die eigenen filmischen Werke hinterlassen zu sollen … und was läge näher als die Autobiografie in Filmrollen zu packen, pardon, in ein Digital Cinema Package zu speichern? So ein richtig langer Film über einen selbst, warum eigentlich nicht? Und in Spielbergs Opa-Alter, dürfte er da nicht nur reminiszieren, sondern auch verklären? Ach, früher, als das Zelluloid noch durch die Projektoren ratterte! Als ich mit der Super8-Kamera in der Wüste hinter dem Haus mit meinen Spezln zusammen Kriegsfilme und Western drehte! Und dergleichen.

Eitles Abfeiern eines frühkindlichen Cineasten-Genius sucht man allerdings zum Glück vergebens; The Fabelmans ist keine Märchenstunde, in der Furcht und Schrecken am Ende mit „Happily Ever After“ ausgetrieben werden. Gleichfalls klar ist, dass es sich nicht um eine 1:1-Schilderung des Spielberg’schen Heranwachsens handelt, dass bestimmt die eine oder andere dichterische Freiheit mit im Spiel ist, dass hier verdichtet, dort ausgeschmückt, mal dezent verschwiegen, mal schlicht übertrieben wird. Beginnt ein Film mit dem Insert „based on actual events“ relativiert der Abspann meist „characters and timelines have been changed for dramatic purposes“. Und schon darf munter gemutmaßt werden: Ob wohl Klein-Stevie tatsächlich seine sündteure Modelleisenbahn geschrottet hat, um das legendäre Zugunglück aus The Greatest Show on Earth (Cecil B. DeMille, 1952) nachzustellen? (Nutzloses Wissen am Rande: Jener schlägt mit 152 Minuten Länge zu Buche, The Fabelmans mit 151 Minuten.) Und ob es wohl wahr ist, dass der Herangewachsene sich als Praktikant eines TV-Senders vom nebenan residierenden, Stumpen qualmenden John Ford den Unterschied zwischen einer interessanten und einer langweiligen Einstellung hat erklären lassen dürfen? Ehrlich gesagt, wen kümmert’s, ob das wahr ist!? Es sieht wunderbar aus und es fühlt sich goldrichtig an, David Lynch als John Ford ist schlicht eine Wucht – und angesichts der letzten Kamerabewegung kommen einem die Tränen der Rührung.


Allerdings handelt The Fabelmans nicht von Friede, Freude, Eierkuchen. Wie ja ohnehin im Grunde alle Filme Spielbergs, so sehr sie auf das Gute im Menschen vertrauen mögen und wieviel Zuversicht und Hoffnung sie sich auch immer zu verbreiten bemühen, sehr genau wissen, wie existenzieller Schmerz sich anfühlt und was Krise und Verzweiflung bedeuten. Es ist daher bezeichnend, dass sämtliche einschneidenden Erlebnisse im Leben von Spielberg-Alter-Ego Sammy Fabelman film-im-filmisch vermittelt werden: der traumatisierende erste Kinobesuch; die Entdeckung, dass die Mutter einen anderen Mann als den Vater liebt; die Konfrontation mit den antisemitischen Schul-Rabauken – jedes Mal wird im Film-im-Film eine Wahrheit sichtbar, die das Faktische, das in dem Fall zugleich das Narrative ist, transzendiert. Dieser quasi-magische Vorgang, der im Alltäglichen das Wunderbare – das ja meist Ecken und Kanten hat – hervorbringt, ist es, dem Steven Spielberg verfallen ist. Und vermittelt über Sammy Fabelman bietet er uns an, daran teilzuhaben.
Von all diesem fundamental Vermächtnishaften aber mal abgesehen, wird auch schlicht die Geschichte eines Jungen erzählt, der Zeuge wird, wie die Ehe seiner Eltern scheitert und die sich schließlich scheiden lassen (was seinerzeit noch nicht allenthalben gängige Praxis war). Freilich ist auch dieser Junge Spielberg und The Fabelmans ist Spielbergs Eltern gewidmet, anknüpfen aber kann an diesen Teil der Geschichte wohl jeder. Im Leben eines jeden Kindes gibt es jenen Moment, in dem die Rollenbilder von Vater und Mutter durchscheinend und die Personen dahinter sichtbar werden: Jene Menschen, die sie unabhängig von uns sind. Sein könnten. Geworden wären. Es ist ein Moment der Ent- wie Verzauberung zugleich. Also doch wieder Kino.

 

THE FABELMANS
Drama, USA 2022 – Regie Steven Spielberg
Drehbuch Steven Spielberg, Tony Kushner; Kamera Janusz Kaminski
Schnitt Sarah Broshar, Michael Kahn; Musik John Williams; Production Design Rock Carter Kostüm Mark Bridges
Mit Gabriel LaBelle, Michelle Williams, Paul Dano, Mateo Zoryan, Seth Rogen, Julia Butters, Keeley Karsten, Sophia Kopera, Judd Hirsch
Verleih Universal Pictures, 151 Minuten
Kinostart 9. März

| FAQ 69 | | Text: Alexandra Seitz
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