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Drei Generationen Frankreich

Text: Bert Rebhandl | Fotos: Österreichisches Filmmuseum

Das Österreichische Filmmuseum widmet den französi-schen Meisterregisseuren Jacques Becker und Claude Sautet eine umfassende Retrospektive.

Les Choses de la vie (1970), R: Claude Sautet

Die Zeit heilt alle Wunden. Dieser Gemeinplatz ist ebenso wahr, wie er natürlich die Abgründe der menschlichen Erfahrung überdeckt. In Claude Sautets Un cœur en hiver (Ein Herz im Winter, 1992) fällt der Satz auch einmal. Hélène, eine beste Freundin, sagt ihn zu Stéphane, dem Mann, der ein „winterliches Herz“ in sich trägt. Stéphane ist Geigenbauer, in diesem Metier ist er ein Virtuose. Als sein Geschäftspartner Maxime eine junge Musikerin kennenlernt, erwacht das Interesse von Stéphane an dieser Frau: Camille Kessler, gespielt von Emmanuelle Béart. Sein Interesse ist aber nicht ganz leicht zu fassen: Ist es vielleicht eher Eifersucht auf den „lebensstarken“ Maxime, die ihn bestimmt? Jedenfalls zieht sich Stéphane, kaum dass er Camilles Begehren erweckt hat, auch schon wieder zurück. Erst recht, nachdem Camille ihm in einem Restaurant in aller Öffentlichkeit eine Szene gemacht hat, in dem sie sich als leidenschaftliche Frau zu erkennen gibt, und nicht als die maximal beherrschte Geigerin, die alles in ihr Spiel mit dem Instrument legt.

Ein Herz im Winter / Un cœur en hiver (1993 ), R: Claude Sautet

Montparnasse 19 / Les Amants de Montparnasse (1958), R: Jacques Becker

Das österreichische Programmkinopublikum machte Anfang der neunziger Jahre mit Claude Sautet (neue) Bekanntschaft, als Un cœur en hiver sehr erfolgreich im Kino lief. Der Film gehört in die späte Werkphase des französischen Regisseurs, der schon 1960 seinen ersten großen Hit gehabt hatte (Classes tous risques/Der Panther wird gehetzt) und der 2000 verstarb. Dass die Zeit alle Wunden heilt, gilt auch für Karriere nicht immer verlässlich. Sautet war zwar immer einer der erfolgreichsten Filmemacher in Frankreich, als großer Künstler, wie die Meister der Nouvelle Vague es waren, als relevant im Sinne von Godard oder Rivette oder auch des jung verstorbenen Truffaut, wurde er kaum gesehen. Das hat mit Besonderheiten der Wahrnehmung des französischen Kinos zu tun. Besonderheiten, die sich nun anhand einer Retrospektive genauer ins Auge fassen lassen, die das Österreichische Filmmuseum zwei Einzelkarrieren im französischen Kino widmet. Neben Claude Sautet steht Jacques Becker im Mittelpunkt, der eine halbe Generation älter war und deswegen auch die Zeit der Besatzung und die Befreiung als Erwachsener erlebte und in seinem Werk verarbeiten konnte. Beide, Becker wie Sautet, gelten als Traditionalisten, sie haben das Kino nicht neu erfunden, sondern versucht, gewisse Aspekte daran zu perfektionieren.

Goldhelm (1952), R: Jacques Becker

Die Dinge des Lebens / Les Choses de la vie (1970), R: Claude Sautet

In beider Werke ist in den letzten Jahren auch viel Restaurierungsarbeit investiert worden, sodass nun in vielen Fällen extrem datenintensive Digitalfassungen vorliegen. Das führt dazu, dass man mit Jacques Beckers Casque d’or (Goldhelm, 1952) ein künstliches Paris um 1900 betreten kann, in dem noch die Pferdekutschen den Verkehr dominieren, in dem die Handwerker Bauchschärpen tragen, und in dem ein Weinhändler das organisierte Verbrechen steuert. Den Goldhelm, von dem im Titel die Rede ist, trägt Marie (Simone Signoret), die Schönste aus einer Riege von Frauen, die zu den Gaunern gehören, und die deswegen unverhohlen als „putains“ (Huren) beschimpft werden. Sieben Jahre nach dem Krieg stellte Casque d’or in einem nostalgischen Sprung eine Verbindung mit dem 19. Jahrhundert wieder her. Und so könnte man auch die Doppel-Retro im Filmmuseum sehen: als eine Chronologie des französischen 20. Jahrhunderts am Beispiel zweier interessant ineinander verschränkter Karrieren, die auch Stufen der Filmgeschichte erkennbar werden lassen. Becker erlebte noch ein klassisches Studiokino. Sein Dernier atout (Der letzte Trumpf, 1942) erinnert von heute aus an die elaborierten Verwirrungen eines Knives Out-Kriminalfalls. Zwei Polizeiaspiranten müssen in einem fiktiven (lateinamerikanisch anmutenden) Staat in einem Hotel einen Mordfall klären. Zu Tod kommt ein Mann, der in den USA als Public Enemy Nummer Eins geführt wird (es ist lustig, diesen Fachbegriff mehrfach in seiner französischen Variante genannt zu hören, er wirkt gleich weniger bedrohlich, und der Film ist ja auch eine Komödie). Dernier atout präsentiert mondäne Menschen, vor allem sind die beiden Helden, die zugleich Konkurrenten und ein Team sein sollen, auch Musterbeispiele des Männerideals dieser Zeit, etepetete gekleidet, immer stilvoll, und natürlich vollendete Charmeure. Von hier ist es ein großer Sprung zu der harten Männerwelt von Le Trou (Das Loch, 1960), seinem letzten Film, und davor hatte er auch noch einen reichlich komischen Ali Baba (1954) gedreht, in dem Fernandel die Hauptrolle spielt – eine einzigartige Figur im europäischen Kino, der man auch einmal eine Retrospektive widmen sollte.

Das Loch / Le trou (1960), R: Jacques Becker

Jacques Becker starb schon 1960, das war das Jahr, in dem Sautet debütierte. Eine direkte Übernahme eines Staffelstabs soll mit dem Programm der Retrospektive im Österreichisches Filmmuseum nicht unterstellt werden. Eher geht es um motivische Kontinuitäten. Zum Beispiel durch das Männerbild. Sautet drehte 1965 in der Karibik den Waffenschmuggelthriller L’Arme à gauche (Schieß, solange du kannst), mit Lino Ventura im Zentrum einer komplizierten Handlung, die aber relativ einfach auf die Kombination öliger Körper (verschwitzt und dreckig vom Hantieren mit Kraftstoffen) und markanter Küstengegenden konzentriert werden kann. Sehr spannend war 1971 das Milieu von Max et les ferailleurs (Das Mädchen und der Kommisar), der wörtliche Titel wäre eher Max und die Schrotthändler. Hier ist der große Sautet-Star Michel Piccoli dabei zu sehen, wie er eines der leichten Mädchen aus der Halbwelt an den Stadträndern, in den Garagen und auf den Abwrackplätzen, in eine vorgebliche Liebesbeziehung lockt, die ihm nur als Falle für einen Gangster dient. Piccoli und Romy Schneider, das war zu diesem Zeitpunkt schon ein Traumpaar, ein Jahr nach dem Film von Sautet, dessen Titel zu einem geflügelten Wort wurde (auch die Retro heißt nun so): Les Choses de la vie (Die Dinge des Lebens). Hier zeigt sich schon eine Schicksalsmechanik, die Sautet später virtuos weiterentwickeln sollte. Ein Autounfall, den man aus allen Winkeln und auch in Zeitlupe zu sehen bekommt, ordnet die Lebensspuren mehrerer Menschen neu. Und es kommt schließlich vor allem darauf an, ob ein Brief, den der von Piccoli gespielte Mann, ein Architekt, bei sich trug, noch gelesen wird – und von wem. Das ist existenzieller Suspense der höchsten Sorte, und Sautet machte später eine Meisterschaft daraus, solche Spannungen auf ein distinguiertes Maß herunterzukühlen. In seinen besten Filmen wird er schon fast abstrakt in seiner Vivisektion menschlicher Gefühlslagen.

Nelly & Monsieur Arnaud (1995), R: Claude Sautet

In seinem letzten Film Nelly et Monsieur Arnaud (1996) arbeitete Sautet erneut mit Emmanuelle Béart, die er mit einem älteren Mann zusammenbrachte (gespielt von Michel Serrault). Der Film gilt als verschlüsseltes Selbstporträt, und ist auch im Zeichen von #MeToo interessant, noch einmal neu gesehen zu werden. Denn bei Sautet geht es eben um die Sublimierung des Impulses, durch die Begegnung mit einer schönen, jungen Frau das Leben vampirisch neu zu durchbluten. Eine Wunde heilt die Zeit, nämlich die, die die Zeit selber ist. Davon wissen die Filme von Jacques Becker und von Claude Sautet sehr viel.

 

Die Dinge des Lebens
Claude Sautet / Jacques Becker
Mai bis 26. Juni 2023
www.filmmuseum.at

 

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