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Nostalgie und Gegenwart

Mick Jagger in "Performance" (1970) R: Nicolas Roeg und Donald Cammell

Wer im regulären sommerlichen Angebot der Lichtspielhäuser zwischen Arthouse und Blockbustern nichts findet, ist bei den zahlreichen österreichischen Sommerkinos möglicherweise besser aufgehoben. Bei „Kino wie noch nie“ etwa, dem Freiluftkino im Herzen des Wiener Augartens, gibt es von 22. Juni bis 20. August wie gewohnt einen traditionellen Mix aus Klassikern und Aktuellem zu sehen.
Starten wir mit Kult und Klassikern: So steht zum 25-jährigen Jubiläum etwa The Big Lebowski von Joel und Ethan Coen auf dem Programm, ein Film, der mit seinen sehr freien Anspielungen auf die verschachtelten Hardboiled-Romane Raymond Chandlers auch heute noch Spaß macht. Seinerzeit hat die skurrile Komödie mit Jeff „The Dude“ Bridges, John Goodman, Steve Buscemi und Julianne Moore den „White Russian“-Umsatz in den Bars dieser Welt ordentlich angekurbelt, und es wäre kein Wunder, wenn nach dem Screening im Augarten das eine oder andere Kultgetränk gekippt werden würde. The Big Lebowski ist jedenfalls nicht der einzige Film aus dem vorvorvorletzten Jahrzehnt: Dem allgegenwärtigen Retro-Trend ist nämlich mit „Back to the 90s“ eine neunteilige Kultfilmreihe gewidmet – gezeigt werden hier ausschließlich analoge 35mm-Kopien. Neben Lebowski oder Wes Cravens Teen-Horror-Klassiker Scream (1996) – zwei überaus zitierfreudige Werke aus einer Zeit, in der die filmische Postmoderne vielleicht am Höhepunkt war – ist u. a. noch Paul Verhoevens seinerzeit völlig verrissene, mittlerweile aber im Kultstatus stehende American-Dream-Satire Showgirls (1995) mit dabei.

The Big Lebowski

Showgirls

Auch an Premieren herrscht kein Mangel: Dazu zählen etwa Fallen Leaves (der neue Film des finnischen Tragikomik-Großmeisters Aki Kaurismäki kreist um zwei einsame Menschen, die sich verlieben) oder Passages von Ira Sachs, in dem Franz Rogowski und Ben Whishaw ein Paar geben, von dem einer eine Affäre mit einer Frau eingeht.
An insgesamt 60 Abenden steht auch wieder das österreichische Filmschaffen in all seinen Facetten im Mittelpunkt, begleitet von zahlreichen Gästen und Filmgesprächen; alle Filme (bis auf den Abschlussfilm) werden wie stets am Folgetag im METRO Kinokulturhaus wiederholt. Ein Special ist etwa der österreichischen Schnittmeisterin Monika Willi gewidmet, die für ihre Arbeit an Todd Fields Tár heuer eine Oscarnominierung erhalten hat. In diesem Programm laufen u. a. Barbara Alberts Nordrand (1999) oder Michael Hanekes Die Klavierspielerin (2001) – zwei Werke aus der Frühzeit des österreichischen „feel bad cinema“. Mittlerweile auch schon ein Vierteljahrhundert alt ist das Migrationsdrama Suzie Washington (1998) des 2014 verstorbenen Florian Flicker. Doch auch neuere Werke Made in Austria laufen, etwa die Wohnparkstudie 27 Storeys – Alterlaa Forever (2023, R: Bianca Gleissinger) oder das auf wahren Begebenheiten beruhende, etwas andere Bundesheerdrama Eismayer (2022, R: David Wagner). Einen traurigen Anlass hat das Screening von Maren Ades Vater-Sohn-Tragikomödie Toni Erdmann (2016): Hauptdarsteller Peter Simonischek ist im Mai im Alter von 76 Jahren verstorben. Für die Verkörperung der komplexen Titelfigur erhielt der gebürtige Steirer den Europäischen, den Deutschen und den Österreichischen Filmpreis. Der so vielseitige wie menschlich sympathische Mime hinterlässt eine große Lücke in der heimischen Kulturlandschaft – seine schauspielerischen Leistungen aber werden bleiben.
Ein Fixpunkt ist die Reihe „Cinema Sessions“, bei der Stummfilmklassiker mit Live-Musik begleitet werden: Mit dem Schwerpunkt „Leading Ladies“ widmet man sich weiblichen Filmschaffenden des frühen Kinos. Den Auftakt macht der österreichische Kriminalfilm Die Würghand (1920) mit Carmen Cartellieri in der Hauptrolle. Ebenfalls beim Frauenschwerpunkt dabei ist die deutsche Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader.

Fallende Blätter

27 Storeys – Aterlaa Forever

Musik nimmt wie stets auch abseits vom Stummfilm eine prominente Rolle ein: So ist dem 2020 verstorbenen Ennio Morricone – der vielen als bedeutendster Filmmusikkomponist aller Zeiten gilt – ein Tribute gewidmet. In dieser Schiene gezeigt werden u. a. Brian De Palmas durchgestylter Gangsterfilm The Untouchables (mit coolen Mamet-Dialogen) oder Roland Joffés Missionarsdrama The Mission – beides zufällig Werke aus den Achtzigern, in denen Robert De Niro prominente Rollen spielt. Morricones Mission-Komposition „Gabriel’s Oboe“ sollte übrigens zu einer der berühmtesten Melodien des Maestros werden; zahlreiche Interpretationen und Transkriptionen (davon sogar eine mit Text) existieren mittlerweile. Und natürlich steht auch Sergio Leones Über-Western Once Upon a Time in the West (1968) auf dem Programm – Leones Bilder und Morricones Musik (ein kreatives Traumpaar) ergeben in ihrer Kombination ein Meisterwerk, an dem man sich einfach nicht sattsehen kann. Performance von Nicolas Roeg und Donald Cammell (1970) hat ebenfalls Musikbezug, ist eine der Hauptrollen doch mit Rolling-Stones-Frontmann Mick Jagger besetzt. Seinerzeit als anrüchig empfunden, ist der Kultfilm einerseits ein interessantes Zeitdokument, in dem ein Gangster auf der Flucht (verkörpert von James Fox) in die drogengetränkte Welt der Bohéme eintaucht, andererseits ist Performance auch eine spannende Auseinandersetzung mit dem Thema Identität – und ein Blick auf die dunklen Seiten der Rockkultur.

Once Upon a Time in the West

Musikalisch geht das Sommerkino denn auch zu Ende: Als Abschlussfilm steht Vienna Calling auf dem Programm, ein Dokumentarfilm über die aktuelle Wiener Musikszene. Dazu gibt es ein Live-Konzert von Der Nino aus Wien.
Musik gibt es aber auch anderswo: Das beliebte Film Festival auf dem Wiener Rathausplatz findet heuer zum bereits 33. Mal statt. Von 1. Juli bis 3. September lassen sich dort Highlights aus Pop, Oper, Jazz Musical und anderen Genres sehen und hören. Die Filmbeiträge und Live-Aufzeichnungen umfassen Künstler von Falco über Anne-Sophie Mutter bis hin zu Metallica und John Williams. Einen Schwerpunkt bildet heuer eine Auseinandersetzung mit dem Klimawandel: So sind Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ in einer Version zu sehen, deren Partitur von einem Klimadaten-Algorithmus verändert wurde.

Wir wünschen einen schönen Sommer und gute Projektion!

 

KINO WIE NOCH NIE
Juni bis 20. August 2023

www.filmarchiv.at

Film festival auf dem Rathausplatz
Juli bis 3. September 2023

filmfestival-rathausplatz.at

 

| | Text: Oliver Stangl
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