Startseite » Der Zauberlehrling

Der Zauberlehrling

Was sieht Christopher Nolan in dem Physiker J. Robert Oppenheimer, dem Vater der Atombombe? Eine kinophysikalische Spekulation

Der griechische Mythos von Prometheus enthält einige der ältesten menschlichen Überlegungen über die Technik. Ein Grenzgänger zwischen Himmel und Erde, ein Angehöriger des Göttergeschlechts der Titanen, der sich aber gegen Zeus auf die Seite der Menschen stellt und ihnen das Feuer bringt. Das war Prometheus. Ein berühmter Filmtitel weiß dazu das Wesentliche: Am Anfang war das Feuer. Mit der Kontrolle über die Flammen, mit der Herstellbarkeit von Hitze, waren die frühen Menschen einen entscheidenden Schritt weiter gekommen. Und danach wurden sie immer vertrauter mit den Elementen, bis im 20. Jahrhundert selbst das Atom, der kleinste Baukern der Welt, noch einmal teilbar wurde. Damals wiederholte sich etwas von der frühen mythischen Konstellation des Feuerraubs, und so macht es nur Sinn, dass Kai Bird und Martin Sherwin ihrer großen Biografie über den Physiker Julius Robert Oppenheimer den Untertitel „American Prometheus“ gaben. Amerika ist selbst so etwas wie die am stärksten prometheische Nation, in Amerika kamen einst religiöse Flüchtlinge an, der amerikanische Traum aber besteht darin, den Göttern (dem Schicksal) mit Hilfe der Technik und des Geldes alles wegzunehmen und auf die Seite der Menschen zu holen.

„Ich fühle mich zu interessanten Protagonisten hingezogen – Protagonisten, die vielschichtig sind. Ich glaube, von allen Figuren, mit denen ich mich beschäftigt habe, ist Oppenheimer bei Weitem die vielschichtigste und paradoxeste“ Christopher Nolan

J. Robert Oppenheimer war der Vater der Atombombe. Die Erfindung ist ein Schlüsselmoment in mehrfacher Hinsicht: Nun existiert eine Waffengattung, die etwas Absolutes hat, weswegen sie auch bis auf zwei erschütternde Ausnahmen am Ende des Zweiten Weltkriegs und zahlreiche ohnehin schon hinreichend zerstörerische Tests nicht eingesetzt wurde. Die Atombombe steht für eine unvorstellbare Gewalt, auch wenn natürlich bis ins Detail errechenbar ist, was bei einer solchen Explosion geschieht. Mit der Spaltung des Atomkerns spaltete die Menschheit auch ihre Geschichte: Seither ist sie gleichsam auf der anderen Seite, sie hat unwiderruflich einen Prozess begonnen, mit dem sie das Innerste der Existenz und des Kosmos offenlegen wird. Längst sind die Physiker auf der Suche nach immer kleineren Partikeln im Inneren der Materie, längst suchen sie auch den Kosmos nach Dingen ab, die es eigentlich nicht geben dürfte.

Und J. Robert Oppenheimer war eine der entscheidenden Figuren in diesem Prozess. Eine überlebensgroße Figur, sagt man in so einem Zusammenhang gern. Doch in diesem Fall ist die Formulierung nur allzu zutreffend, und sogar in einem doppelten Sinn: Denn das Biopic, das Christopher Nolan über Oppenheimer gedreht hat, nimmt den Slogan von der überlebensgroßen Figur ganz wörtlich. Noch nie wurde ein Film mit Schwarzweiß-Sequenzen im Format 15 perf IMAX 70 präsentiert, im Grunde ein Überwältigungsmedium, das hier aber für ein Charakterdrama verwendet wird. „Die Geschichte von Oppenheimer ist eine der größten vorstellbaren. Unser Film will seine Erfahrung nachvollziehbar machen, und IMAX ist für mich ein Portal, das eine Gefühlsebene erschließt, die man in anderen Formaten nicht bekommt“, so hat Nolan selber sich in einem der wenigen vorab verlauteten Statements geäußert. Der Kameramann Hoyte Van Hoytema ergänzt: „IMAX ist ein Spektakelformat. Ich war neugierig, was man damit in einem intimen Format machen konnte. Das Gesicht ist wie eine Landschaft. Wie können wir mit der Kamera näher an Menschen heran?“

Das Gesicht ist in diesem Fall das Gesicht von Cillian Murphy. Der irische Schauspieler – bekannt u. a. für seine Rollen im Danny Boyles 28 Days Later, Batman Begins oder The Wind That Shakes the Barley von Ken Loach – bringt neben anderen Voraussetzungen die auffälligen Augen mit, die auch der historische Oppenheimer hatte: Charismatikeraugen, die aber auch bedrohliche Blicke aussenden konnten. Murphy steht im Mittelpunkt eines riesigen Casts, denn Nolan will anscheinend alle Aspekte aus Oppenheimers Leben in seine Geschichte integrieren. Und das war nun einmal eine Menge: das Wissenschaftsmanagement mit der Etablierung des Labors in Los Alamos in New Mexico, wo im Wettlauf mit dem Faschismus an der Bombe geforscht wurde; die politischen Einstellungen von Oppenheimer, der zwar nie Kommunist als Parteimitglied war, aber genügend Angriffspunkte bot, dass sich im beginnenden Kalten Krieg der berüchtigte antikommunistische Senator Joseph McCarthy über ihn hermachen konnte; die Kontakte mit genialen Forschern in aller Welt (Kenneth Branagh spielt Niels Bohr); und schließlich auch noch, eh klar, die Beziehungen Oppenheimers. Allein über seine Ehefrau Kitty (Emily Blunt) könnte man ein eigenes Biopic drehen, eine gebürtige Deutsche aus dem preußischen Westfalen, eine Kommunistin in Amerika, eine Biologin und später eine Alkoholikerin. Oder Jean Tatlock (Florence Pugh), mit der Oppenheimer eine Affäre hatte, auch sie eine Kommunistin, von der Ausbildung her auch Psychologin, sie nahm sich 1944 wegen einer Depression das Leben. Das Blockbuster-Kino wird durch Christopher Nolans neuen Film eine intellektuelle Kultur in Amerika kennenlernen, die voller Dramen war, die aber auch als ein Gegenbild zu der viel geläufigeren Mythologie der dreißiger Jahre mit ihren Gangstern und mit dem paranoiden J. Edgar Hoover als dem ersten großen Kulturkämpfer war.

Christopher Nolan mit Kameramann Hoyte Van Hoytema und Cillian Murphy am Set von Oppenheimer

Wie passt Oppenheimer nun in den Karriereplan von Christopher Nolan? Er ist ja eine einzigartige Figur in Hollywood, ein Blockbuster-Regisseur, der daran arbeitet, die Grenzen seines Mediums immer wieder neu zu definieren. Vor allem aber ist er ein Verfechter des analogen Kinos, das bei ihm alle Stückerl des Digitalen (mit)spielt. Es liegt nahe, dass man Oppenheimer zwischen einem philosophierenden Science-Fiction-Film wie Interstellar und einem ebenfalls (zeit-)philosophierenden Action-Film wie Tenet (und nach der Batman-Trilogie) an die Seite von Dunkirk stellt. Das war 2017 sein Beitrag zum Kriegsfilmgenre, eine Episode aus dem Zweiten Weltkrieg über den Rückzugskampf der Briten aus Frankreich vor den Nazis – im Prinzip eine Niederlage, in der sich für Nolan aber schon die spätere Mobilisierung gegen den Faschismus mit der Landung in der Normandie 1944 abzeichnete. Auch Dunkirk lief in ausgewählten Kinos in 70mm-Projektionen, und schlug eine Brücke vom stark moralisch aufgeladenen Kriegspatriotismus des Kinos in den vierziger Jahren in die Gegenwart der Plattform-Unterhaltung. Oppenheimer ist dazu als „companion piece“ denkbar, zugleich auch als dialektisches Gegenstück zum individuellen Heldentum, das Dunkirk feierte. Gegen eine Atombombe hilft individuell nur die Entscheidung, sie nicht einzusetzen.

Vielleicht aber hat Nolan in dem Kernspalter Oppenheimer auch etwas gesehen, das ihn als Zauberlehrling des Kinos fasziniert („magical“ nannte er die aktuellen Resultate mit schwarzweißem IMAX-Material). Nolan arbeitet ja an einem eigentümlichen Versuch, das Korn des Kinos (also die Atome des Zelluloids) mit dem digitalen Pixel zu einer höchstauflösenden Bildsubstanz zu verbinden – Kernspaltung und Kernfusion bei den Bildträgern gehen dabei ineinander über, man könnte beinahe von einer Entsprechung zu dem Grundfaktum der Quantenphysik denken, an den Welle-Teilchen-Dualismus. Dass ein Gegenstand in zwei Weisen gleichzeitig existieren kann, das ist im Kino von Christopher Nolan ganz selbstverständlich. Weil er prometheisch den Göttern des Digitalen das Feuer des Kinos abtrotzt.

 

OPPENHEIMER
Drama, Biografie, USA, 2023 — Regie Christoper Nolan
Drehbuch Christoper Nolan, Kai Bird, Martin Sherwin
Kamera Hoyte Van Hoytema Musik Ludwig Göransson
Mit Cillian Murphy, Emily Blunt, Matt Damon, Robert Downey Jr.,
Florence Pugh, Benny Safdie, Rami Malek, Kenneth Branagh, Gary Oldman
Verleih UPI, 180 Minuten
Kinostart 20. Juli 2023

| FAQ 71 | | Text: Bert Rebhandl
Share