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EIGENSINNIG

Das Wiener Avantgardemode-Label eigensinnig wien setzt auf unkonventionelle Mode in Schwarz. Und stellt dabei, ganz en passant, nicht nur die Frage, was der Mensch ist – sondern auch, was er sein kann. Ein Portrait.

Foto: Toni Woldrich

Wenn man den Sankt Ulrichs Platz am unteren Ende des 7. Bezirks betritt, hat man ein wenig das Gefühl, in die Vergangenheit hineinzugehen. Die gigantische Kirche mit den Engelstatuen mitten am Platz, das Kopfsteinpflaster, die revitalisierten Barock-Häuser – man könnte sich im Wien des Fin de Siècle vermuten. Es ist ein Mikrokosmos, in dem der Puls der Stadt in einem gemächlicheren Tempo schlägt und der Geräuschpegel um einige Dezibel leiser zu sein scheint. Aber auch ein gewisser Esprit des Aufbruchs ist in dieser anachronistischen Kulisse zu spüren, eine Lust auf Zukunft – und darauf, sie mitzugestalten.

Gesehen werden und auf die Welt einwirken.

Im ältesten Haus am Platz, wo einst eine Apotheke war, ist seit über zehn Jahren eigensinnig wien zuhause. Der Showroom des Avantgardemode-Labels liegt ganz bewusst abseits der Shoppingpfade und passt hier auch bestens hin. Wenn man den Laden mit dem hohen Gewölbe betritt, hat man ein wenig den Eindruck, in einer Galerie gelandet zu sein. Die Atmosphäre ist gleichzeitig leicht und dicht, die sonst so schnell laufende Welt wird langsamer, das fühlt sich gut an. In der Luft liegt etwas Glitzerndes, das man nicht sehen kann, etwas Knisterndes, das man nicht hören kann.

Foto: Alex Lang

Die vornehmlich schwarzen Kollektionen hängen wie Kunstwerke von der meterhohen Decke. Als wären sie Teil einer Choreografie ohne äußere Bewegung. Wobei die Bewegung in ihnen angelegt ist, entstanden sie doch aus einer Vielzahl von Bewegungen. Von der Idee, die den Geist bewegt hat, über die Umsetzung, bei der Hände Stoffe geschnitten und zusammengenäht haben bis zur Bewegung, die danach geschieht. Denn lebendig werden die Kreationen erst durch die, die sie dann in die Welt hinaustragen. Und dann eben auch auf eine bestimmte Art und Weise auf sie einwirken. Gesehen werden und auf die Welt einwirken, das wollen wir doch alle, oder etwa nicht?

eigensinnig wien hat sich seit 2012 mehrmals neu erfunden, aktiv herbeigeführte Veränderungen sind ein konstituierendes Merkmal des Labels. Was dabei allerdings immer gleichgeblieben ist, ist der Anspruch, „Eigensinn sichtbar zu machen“, wie Toni Woldrich, der kreative Kopf hinter dem Label, es so gerne ausdrückt. „Das ist sowas wie der schwarze Faden, der sich durch unsere Geschichte zieht.“

„You are allowed to be both a masterpiece and a work in progress, simultaneously.“
Sophia Bush

Foto: Toni Woldrich

Im Gespräch mit dem Gründer wird schnell deutlich, dass es hier um mehr geht als nur Mode. Es geht um das tief verankerte menschliche Bedürfnis des Selbstausdrucks. Basierend auf dem Glauben, dass jede:r einen unveränderlichen Wesenskern hat im Sinne einer Essenz, die aus dem fünfjährigen Ich und dem Erwachsenen-Ich dieselbe Person macht. Rund um diesen Kern ist aber ein Spielraum, in dem der Mensch frei ist, sich selbst zu gestalten und seinen unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen Ausdruck zu verleihen – in all der Widersprüchlichkeit, die das Menschsein mit sich bringt. „Kleidung, die dem gerecht werden will, muss auch immer Raum zur Interpretation lassen“, sagt Woldrich. Das ist einer der Gründe für das Schwarz, in dem die meisten Kleidungsstücke, die im hauseigenen Atelier gefertigt werden, daherkommen.

Schwarz bringt die Widersprüche, die jeder Mensch in sich trägt, auf den Punkt. Mit Schwarz setzt man ein Statement, das dem stetigen Wandel, dem das Selbst unterworfen ist, Ausdruck verleiht. In der Farbe ist so viel angelegt: Melancholie und Poesie, Kraft und Eleganz, Understatement und Eitelkeit. Schwarz ist immer bezogen auf den Kontext, in dem es auftaucht. „Insofern ist Schwarz ein Chamäleon ohne Farben,“ sagt Woldrich. Es passt sich an und bleibt dennoch so, wie es ist. Aus all diesen Gründen ist es wohl auch die einzig mögliche Farbe für eine Mode, die der einzigen Konstante im Leben gerecht werden will: der Veränderung. Dabei verankert es den rastlosen Menschen in der Welt, die sich ständig selbst überholt. „We run as fast as we can in order to stay in the same place“, sagte der Kulturhistoriker Peter Conrad schon vor über 20 Jahren.

„Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben“
Robert Musil

Foto: Toni Woldrich

Es ist ein langer Weg, bevor ein eigensinniges Kleidungsstück Form annimmt und zu dem Menschen findet, der sich damit selbst ausdrückt. „Unsere Kollektionen fangen immer mit Gedanken oder Ideen an“, sagt Woldrich. Sie sind inspiriert von Gedanken und Werken aus Philosophie und Kunst, von Musik und Literatur, aber auch der Gesellschaft und Begegnungen mit anderen. „You are, in fact, a mashup of what you choose to let into your life”, hat der Kreative Austin Kleon gesagt. Diese Mischung von Dingen, die Toni Woldrich und sein Team in ihr Leben lassen, ist die Saat, aus der die Kollektionen erwachsen. Dabei spielen ganz unterschiedliche Konzepte und Ideen eine Rolle, so zum Beispiel der negative Raum, die Chaostheorie oder der Möglichkeitssinn nach Robert Musil, der sagte: „Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben“.

„Science strives for answers, but art is happy with a good question.“
François Jullien

Der Prozess, in dem die Kreationen entstehen, ist experimentell. „Den Rahmen, in dem wir denken und agieren, nennen wir Oversize Korsett. Denn ganz ohne Rahmen verschluckt sich Kreativität an sich selbst,“ so Woldrich. In dieser selbstgesetzten Beschränkung wird ausprobiert und verworfen, dekonstruiert und wieder neu zusammengesetzt. Die Kleidungsstücke, die dabei entstehen, sind so eigensinnig und individuell wie die Menschen, die sie dann in die Welt hinaustragen. Der asymmetrische Schnitt findet sich in den meisten Teilen wieder, in Kombination mit unkonventionellen Details, die sich mal offensichtlicher, mal subtiler zeigen. Jedes Stück hat etwas an sich, das Fragen aufwirft. „Science strives for answers, but art is happy with a good question”, hat der Lichtkünstler James Turrell gesagt.

Foto: Alex Lang

Was nicht passt, wird passend gemacht.

Als „tragbare Kunst“ werden die Avantgarde Mode Kreationen des Wiener Labels oft bezeichnet. Mit Betonung auf tragbar. Denn das Gute an der Mode, von der vieles unisex ist, ist: Sie ist hochgradig versatil. Auch hier zählt wieder der Kontext. Elegant, extravagant, exzentrisch oder zurückhaltend, sophisticated und cool – alles ist möglich. Auch in dem Sinn, dass es sich um das Gegenteil von Stangenware handelt. „Was nicht passt, wird passend gemacht“, sagt Woldrich. In der hauseigenen Schneiderei im ersten Stock werden Ärmel oder Hosenbeine gekürzt und sonstige Änderungen nach Wunsch der Kund:innen vorgenommen. Auch eine Maßschneiderei ist Teil von eigensinnig wien. Dort können sich die Kund:innen ein individuelles Designermodell anfertigen lassen. Die Kreationen für Damen und Herren gibt es außerdem in Übergrößen, denn: „Stil kennt nicht nur kein Alter, sondern auch keine Körperform“. Die Klientel von eigensinnig wien ist heterogen und international. Es sind Menschen, die ihrem Eigensinn und ihrer Unkonventionalität Raum geben, die sich selbst ausdrücken wollen. Dass auch viele Künstler:innen, Autor:innen und andere in der Öffentlichkeit stehende Personen darunter sind, wundert nicht: Die Fragen, die in den Kreationen des Labels gespeichert sind, beschäftigen die Menschheit schon seit immer. Sie sind zeitlos – und angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen so aktuell wie nie zuvor.

www.eigensinnig-wien.com

 

| FAQ 72 | | Text: Martha Miklin
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