Startseite » Die Unfassbare

Die Unfassbare

Sandra Hüller spielt nicht einfach. Für sie bedeutet jede Rolle eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem großen Ganzen – auch mit sich selbst. Dafür ist sie nun als Beste Hauptdarstellerin für einen Oscar nominiert.

Sandra Hüller bei den 81. Golden Globe Awards, 2024 © PMC / Alamy Stock Foto

Sie ist die Frau der Stunde, keine Frage. Die Aufmerksamkeit ist redlich verdient. Sandra Hüller spielte schon immer jede ihrer Figuren auf Augenhöhe, bedingungslos, intelligent. In diesem Jahr ist sie gleich mit zwei Filmen bei den Oscars vertreten: Neben Jonathan Glazers Holocaust-Drama The Zone of Interest, das in insgesamt fünf Kategorien ins Rennen geht, ist sie für ihre Rolle im französischen Drama Anatomie eines Falls als beste Schauspielerin nominiert.
Ihr Handwerk gelernt hat die 1978 in Suhl geborene Hüller Ende der neunziger Jahre an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin. Sie spielte Theater in Bochum, Basel und München. Als Filmschauspielerin beeindruckte sie 2006 in Hans-Christian Schmids Exorzismus-Drama Requiem. Anschließend fiel sie immer öfter in kleineren Kinoproduktionen wie Madonnen (2007), Brownian Movement (2010) oder Über uns das All (2011) auf. Dass sie auch tragikomischen Figuren stets eine extreme Würde verleiht, hat sie spätestens in Toni Erdmann (2016) von Maren Ade bewiesen, jenem Film, der sie auch international berühmt machte. Aber wie schonungslos ehrlich und unbedingt, wie die Ausnahmekünstlerin in The Zone of Interest ihrer Rolle als Frau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß begegnet, hat noch einmal eine andere Intensität, ist unfassbar sehenswert und tief bestürzend zugleich.

Sandra Hüller und Christian Friedel in „The Zone of Interest“ Foto: Leonine

Frau Hüller, wie schafft man es, eine Frau wie Hedwig Höß zu spielen, ohne ständig einen Kloß im Hals zu haben?

Man muss es vielleicht anders formulieren, denn ich habe wirklich nicht den Eindruck gehabt, dass ich hier eine bestimmte Person oder eine Rolle spiele, sondern ich war Teil eines Projekts. Ich habe der Vision des Regisseurs Jonathan Glazer gedient – was ein bisschen gefährlich klingt, wenn man es so formuliert, denn das ist im Film ja sozusagen auch die Einstellung der Figuren gegenüber dem System. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich eine Figur erschaffe.

Was dann?

Ich würde zwei Dinge ganz klar unterscheiden: Einerseits meine Erfahrung als Schauspielerin, in diesem Team zu arbeiten, mit dieser Art von Kameratechnik und unter Jonathans Regie, und andererseits meine Erfahrung als Mensch, speziell als deutscher Mensch an diesem Ort, in Ausschwitz. Das sind für mich zwei völlig verschiedene Perspektiven, weil die Art der Wahrnehmung, zu der ich als Privatperson in der Lage bin, nicht dieselbe ist, zu der Frau Höß in der Lage war.

Wie genau würden Sie die Sichtweise von Hedwig Höß beschreiben?

Ich glaube, dass sie ziemlich wenig bemerkt hat. Das ging sie alles gar nichts an. Sie dachte, sie ist im Recht, und damit war die Sache erledigt. Deswegen habe ich gar nicht erst versucht, nach etwas zu graben oder ihre Beweggründe zu verstehen, biografische Details aufzuspüren oder sonst irgendwas. Es ging mir nicht darum, ihr in irgendeiner Form nahe zu kommen. Es war tatsächlich eher eine physische Arbeit, eine Frage von Präsenz, und was das mit mir persönlich macht. 

Man muss eine Figur also gar nicht verstehen, um sie spielen zu können?

Nein. Aber das war mir vorher selbst nicht bewusst, und ich glaube, es geht nur in dieser Konstellation. Sobald ich möchte, dass das Publikum jemanden versteht, muss ich das auch tun. Denn dann geht es mir darum, die Figur zu beschützen. Nur das ist hier eben nicht der Fall. Ich fand immer, dass sie, Hedwig Höß, das überhaupt nicht verdient hat. Deswegen: Es geht auch ohne. Eine erschreckende Feststellung, auch für mich.

War die Pragmatik, die Ihre Figur an den Tag legt, etwas, worüber Sie sie zumindest ansatzweise greifen konnten?

Auch hier ist „greifen“ eigentlich nicht das passende Wort. Jonathan hat immer gesagt: „Wenn man nachdenken will, muss man innehalten.“ Doch das tut sie nicht. Sie macht keine Pause, die ihr die Möglichkeit geben würde, auch mal zu reflektieren, was da passiert. Sie ist immer in Aktion, sei es im Garten oder mit den Kindern oder beim Verteilen von Unterwäsche von getöteten Menschen. Aber ich weiß, was Sie meinen. Und vielleicht ist diese blinde Geschäftigkeit eher kein Charakterzug in dem Sinne, sondern eine ganz praktische Handlungsanweisung der Regie. 

„The Zone of Interest“ Foto: Leonine

Wie hat Sie Jonathan Glazer insgesamt an das Projekt herangeführt?

Eben nicht über die Figur, sondern über seinen Ansatz. Alles drehte sich um die Frage, wie man so leben kann, in diesem scheinbaren Paradies, mit der Hölle nebenan, die man selbst geschaffen hat. Wie kann man das die ganze Zeit verdrängen und negieren? Und was hat das mit uns heute zu tun? Der Film ist auf eine Art und Weise modern, die dazu führt, dass uns die Geschichte berührt, ohne dass sie historisch wirkt oder die Figuren eine Monstrosität haben, die es uns erlauben würde, sie von uns weghalten zu könnten. Nein, es sind ganz gewöhnliche Leute, die alltägliche und banale Dinge tun. Das Drama spielt sich woanders ab. Für Jonathan war es wichtig, dass die Erzählung so flach wie möglich verläuft.

Der britische Regisseur ist selbst ein sehr privater Mensch, der selten in der Öffentlichkeit über seine Arbeit spricht. Wie haben Sie ihn bei den Dreharbeiten kennengelernt?

Er ist klug, mutig und ein großer Visionär, der jede Art von Kunst schaffen könnte, nicht nur Film. Mich hat vor allem die Ernsthaftigkeit fasziniert, mit der er arbeitet, die Zärtlichkeit, mit der er den Menschen um sich herum begegnet, der Respekt, der jederzeit zu spüren ist. Das war schon außergewöhnlich für mich als Schauspielerin.

Wie viel hat er Ihnen im Detail über die Art der Inszenierung verraten?

Durch die Gespräche mit Jonathan war mir schnell klar, in welche Fallen der Film nicht tappen würde. Etwa, dass es kein herkömmliches Nazi-Drama werden sollte, das darauf ausgelegt ist, die Geschichte zu emotionalisieren und zu fetischisieren. Ich hatte eher den Eindruck, dass es ihm in erster Linie darum ging, beim Publikum ein Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen, eine Art Unwohlsein, aber nicht so sehr, dass man das Kino verlassen möchte, weil man sich angegriffen fühlt. Der Film passiert auf einer Ebene, die ganz schwer zu fassen ist, eben weil er so unspektakulär daherkommt. Und weil die Musik von Mica Levi in Stellen in unserem Körper und Geist vordringt, wo das Bewusstsein gar nicht mehr hinkommt.

Wie haben Sie persönlich die Dreharbeiten in Auschwitz empfunden?

Der Ort hat von uns als Menschen einen enormen Respekt verlangt, eine Demut, die ich sonst nirgends auf der Welt jemals so verspürt habe. Und ich bin grundsätzlich ein demütiger Mensch. Aber das war schon speziell, die Art von Ernsthaftigkeit, die ich da empfunden habe. Das war auch durch nichts zu verändern. Und selbst wenn ich auch nur im Ansatz gedacht hätte, das ist jetzt alles ganz schön viel, wäre das Gefühl sofort wieder weg gewesen, weil es sozusagen überhaupt nicht in Relation stand mit dem, was damals dort geschehen ist …

Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 74

 

 

| FAQ 74 | | Text: Pamela Jahn
Share