Bei Woody Allen ist es seit geraumer Zeit wie mit der Schachtel Pralinen: Man weiß nie was man kriegt. Seine Filme, mindestens einer pro Jahr, entstehen weiterhin unter dem vermeintlichen Schutzmantel der Narrenfreiheit, die er seit seiner Glanzzeit genießt, auch wenn beim Publikum die Euphorie der Anfangsjahre längst einer alarmierenden Gleichgültigkeit gewichen ist, die lediglich Allen selbst und seinen verlässlich hochkarätigen Darstellern abzugehen scheint. Das Glück kommt wenn, dann unverhofft, wie unlängst in Form von Blue Jasmine (2013), doch auch die nächste Enttäuschung lässt in Allens Universum meist nie lange auf sich warten. Und so wurde auch nach der Premiere von Irrational Man beim diesjährigen Festival in Cannes wieder viel genörgelt, was er alles falsch gemacht habe: Dass es ihm an Esprit und jenem funkelnd selbstironischem Sarkasmus mangle, der ihn einst groß machte. Dass es seinen Filmen überhaupt an Originalität und Tiefe fehle, weil er altbekannte Themen aus seinem neurotischen Plotwerk immer wieder aufs Neue aufgreife. Dass er eben alt, bequem und wieder ein Stück verworrener geworden sei. Und keine Frage: Nicht alle Kritik ist unberechtigt. Dennoch steckt hinter dem inzwischen allzu vertrauten Mittelmaß, dass Allen bisweilen auch in Irrational Man nicht vertuschen kann, mehr, als sich vielleicht auf den ersten Blick zu erkennen gibt.
Stellt man also die Vorurteile, die man gegen Woody Allen nicht erst seit gestern haben kann, einmal hinten an, hat man es bei Irrational Man mit einem bestechend einfachen filmischen Vergnügen zu tun, das seine Energie voll und ganz aus der Depression der von Joaquin Phoenix mit Inbrunst verkörperten Titelfigur bezieht. Abe Lucas (Phoenix) ist ein Philosophieprofessor der unkonventionellen Art: in Fachkreisen für seine radikalen Ansichten respektiert, lebt er privat aus, wozu ihn die jahrelange, intensive Lektüre von Kierkegaard und Nietzsche gepaart mit ein paar niederschmetternden Lebenserfahrungen geführt haben. Desillusioniert von Gott und der Welt, alkoholanhängig, trübselig und fundamental lebensmüde nimmt er schließlich eine Stelle an einer kleinen Universität auf Rhode Island an, wo man den zerknautschten Kollegen mit offenen Armen empfängt. Doch das wissenschaftliche Arbeiten und Unterrichten ist ihm ebenso verleidet wie das Leben selbst, lieber hält er sich schon zum Frühstück den mit Scotch gefüllten Flachmann an die Brust und dafür jeden Anflug von menschlicher Wärme vom Hals. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, denn sein zunehmend gequältes Dasein macht ihn für seine weiblichen Verehrerinnen auf dem Campus nur umso attraktiver. Vor allem die ehelich und sexuell gleichsam frustrierte Professorin Rita (Parker Posey) hat einen Narren an dem heilungsbedürftigen Exoten gefressen, ebenso wie die brave Vorzeigestudentin Jill (Emma Stone), die ihn mit einem Schwall an Nächstenliebe überschüttet, derer sich selbst Abe irgendwann nicht mehr entziehen kann. Und Jill ist es schließlich auch, die Abe ohne es zu ahnen aus seiner Misere holt. Denn als die beiden immer mehr Zeit miteinander verbringen und eines Tages im Diner ein Gespräch am Nachbartisch überhören, bei dem Abe von einem Richter erfährt, der einer Frau in einem Sorgerechtsstreit das Leben zur Hölle zu machen scheint, ist sein Entschluss gefasst: Der Richter muss zu Fall gebracht werden! Und wer käme als Täter besser in Frage als er selbst, der darin die große Chance sieht, seinem eigenen Leben durch diese heroische, moralisch wertvolle Tat neuen Schwung zu geben.
Die Prämisse, mit der Abe sich aus dem Sumpf der Depression zu ziehen sucht, ist für Woody Allen-Verhältnisse keine außergewöhnlich düstere. „I was always pessimistic“, erklärt der heute fast 80-jährige Regisseur immer wieder gern und mit schier ungebundener Begeisterung seine abgründige Weltsicht, die ihm buchstäblich in die Wiege gelegt worden zu sein scheint. „My pessimism was so profound, there was nowhere to go. I can’t get more pessimistic than I was when I was growing up. So, I always had a very dark view of life and of people, and I still do. If I’d kill all the people I wanted to kill, I would be the only one left in this world.“ …
Vollständiger Artikel in der Printausgabe.
Irrational Man
Kriminalgroteske, USA, 2015 – Regie, Drehbuch Woody Allen Kamera Darius Khondji
Schnitt Alisa Lepselter Kostüm Suzy Benzinger Production Design Santo Loquasto
Mit Joaquin Phoenix, Emma Stone, Parker Posey, Jamie Blackley, Betsy Aidem, Ethan Phillips
Verleih Warner Bros., 95 Minuten
Kinostart 13 November