Können 32 Grammys und 88 Nominierungen lügen? Wohl eher nicht. Beyoncé ist die meistdekorierte Künstlerin der Geschichte und hat so nebenher 200 Millionen Tonträger verkauft. Jene 60 Millionen, die sie als Mitglied (und Mittelpunkt) von Destiny’s Child an Mann und Frau brachte, sind da noch gar nicht mitgerechnet. Jede Tour ist ein Triumphzug, jede Veröffentlichung marschiert an die Spitze. Was bleibt da noch zu tun, wenn die angenehme Langeweile am Pool in Malibu mit Mann und Kindern keine Option ist?
Nun, man kann im Jahr eine halbe Million Dollar für Stipendien zur Verfügung stellen, die zukünftige Kosmetiker und Kosmetikerinnen in Anspruch nehmen können. Ausbildung und Wissen sind schließlich der Weg zu einem selbstbestimmten Leben. Das ist zwar lobenswert, füllt den lieben langen Tag aber nicht aus. Man könnte auch mit der Kernkompetenz Musik neue Märkte erschließen; Märkte, die von der aus dem R&B kommenden Künstlerin bisher gemieden oder zumindest nicht offensiv angegangen wurden. Klar veröffentlichten Ray Charles, Tina Turner, Solomon Burke und viele weitere Soulgrößen Countryalben, und Charley Pride war in den späten Sechzigern einer der größten Stars, aber auf den Plattencovers war sein Gesicht nur selten zu sehen. Irgendwann musste es passieren, und die in Houston geborene Texanerin Beyoncé war geradezu prädestiniert dafür, der Countrymetropole Nashville den Marsch zu blasen. Das geschah dann auch mit „Texas Hold ’Em“, einem lupenreinen Countrysong mit Banjo-Intro, unwiderstehlichem Groove und Schüsselworten wie Bar oder Whiskey, der natürlich sofort die Countrycharts und die übrige Welt eroberte. Einige Country-Radiostationen in Nashville wollten den Song nicht spielen, aber der lächerliche Widerstand war von kurzer Dauer. Beyoncé setzte sich an die Spitze der heiligen Countrycharts und war damit die erste schwarze Frau, die diesen Platz einnahm. Als kleine Fußnote sei angemerkt, dass das Banjo, das den Song trägt, von Rhiannon Giddens gespielt wurde, die nicht nur eine blendende Folk-Musikerin ist, sondern sich auch dafür einsetzt, dass die typischen Country-instrumente von den „Black Musicians“, wie sie sich ausdrückt, zurückerobert und wieder in eigene Kultur integriert werden.
Dass das darauffolgende Album „Cowboy Carter“ gleich auch ein Cover von Dolly Partons Jahrhunderthit „Jolene“ beinhaltet und die ganze Breite von Beyoncé zeigt, war da fast schon die logische Fortsetzung. Vielleicht hat das Erschließen neuer Märkte durchaus auch seine positiven Seiten.
Beyoncé „Cowboy Carter“ (Columbia/Sony)