Startseite » FANTASTISCHER REALISMUS

FANTASTISCHER REALISMUS

Mit Gregory Crewdson widmet die Albertina einem der bedeutendsten Fotokünstler der Gegenwart eine umfangreiche Retrospektive.

Gregory Crewdson „The Basement“ From the series: Cathedral of the Pines, 2013-2014. Digital pigment print. Albertina, Wien. Permanent loan - Kerry Propper, Art Invest II LLC © Gregory Crewdson

Gregory Crewdson, Jahrgang 1962, ist einer der großen Namen der rezenten Fotokunst – da ist es schon etwas Besonderes, dass die Retrospektive in der Albertina die weltweit erste ist, für die alle wesentlichen Serien des Künstlers zusammengetragen werden konnten. Um sich einen ersten Eindruck von Crewdsons Arbeit zu verschaffen, mag ein Blick ins Internet reichen, doch um deren voller visueller Wucht gewahr zu werden, ist das Museum der richtige Ort: „Für einen Fotografen, der sich selbst gerne als Realisten bezeichnet, erscheint die Bildgewalt von Gregory Crewdsons Werk verblüffend. In beeindruckendem Großformat, von brillanter Farbigkeit und bis ins kleinste Detail durchdacht, sind seine Serien von raffiniertem Kalkül“, räsoniert Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder im Katalog zur Schau. Verblüffung ist dabei ein gutes Stichwort, denn bei Crewdson geht hoher inszenatorischer Aufwand mit einem Blick in die Untiefen von Psyche und Gesellschaft einher.

Gregory Crewdson „Madeline’s Beauty Salon“ From the series: Eveningside, 2021-2022. Digital pigment print. Albertina, Wien – Courtesy of the Artist © Gregory Crewdson

Gregory Crewdson „Untitled“ From the series: Sanctuary, 2009. Digital pigment print. Albertina, Wien – Courtesy of the Artist © Gregory Crewdson

Das Interesse des gebürtigen New Yorkers Crewdson an solcherlei Themen kommt zum Teil aus der Jugend: Sein Vater war Psychoanalytiker, und da die Praxis sich im Elternhaus befand, bekam der junge Gregory einiges von den Patientengesprächen mit. Deren geheimnisvolle Inhalte, die er noch nicht wirklich verstand, beflügelten seine Fantasie. Hinzu kommen Einflüsse aus den Bereichen Film und bildende Kunst: Die verloren-einsamen Figuren des Malers Edward Hopper prägten ihn ebenso wie die symbolische Lichtsetzung in den Filmen Hitchocks oder die Erschütterung amerikanischen Vorstadtlebens durch mysteriöse Ereignisse wie etwa in Spielbergs Close Encounters of the Third Kind. Der vielleicht größte Einfluss sind die Arbeiten David Lynchs – und hier insbesondere Blue Velvet (1986), in dem sich hinter der Fassade einer US-Kleinstadt ein Abgrund aus Gewalt und Perversionen auftut. Wenig verwunderlich, dass auch die Lynch-Serie Twin Peaks nie weit weg zu sein scheint.

Crewdson setzt seine Fotografien nach monate-, teils jahre-langen Vorbereitungen auf Filmsets oder in der Kulisse US-amerikanischer Kleinstädte in Szene, wobei er oft von mehreren dutzend Mitarbeitern unterstützt wird. Die mysteriösen Szenen zeigen, so Klaus Albrecht Schröder, „wie sich das Irrationale, Rätselhafte und Unheimliche seinen Weg in das Alltägliche bahnt, ohne die angedeuteten Erzählungen jedoch vollständig aufzuklären. Oft unschlüssig und zweifelnd, verharren die Protagonistinnen und Protagonisten in Crewdsons Fotos in absolutem Stillstand, sie erscheinen in sich gekehrt und verloren. Der Künstler zeichnet damit das Bild einer Gesellschaft, in der sich die Menschen voneinander – und darin ist er tatsächlich Realist – entfremdet haben.“
Die Crewdson-Schau umfasst neun Werkgruppen, die beim Frühwerk der achtziger Jahre beginnen und bis zu den aktuellen Arbeiten reichen. Für die Albertina hat die Ausstellung den positiven Nebeneffekt einer umfangreichen Schenkung, die die Fotosammlung des Museums wesentlich vergrößert.

Gregory Crewdson „Redemption Center“ From the series: An Eclipse of Moths, 2018-2019. Digital pigment print. Albertina, Wien. Permanent loan – Kerry Propper, Art Invest II LLC © Gregory Crewdson

Gregory Crewdson „Starkfield Lane“ From the series: An Eclipse of Moths, 2018-2019. Digital pigment print. Albertina, Wien. Permanent loan – Kerry Propper, Art Invest II LLC © Gregory Crewdson

Behind the Scenes

Eine von Crewdsons bekanntesten Serien ist dabei „Twilight“, die zwischen 1998 und 2002 entstand. Diese analysiert der Chefkurator der Abteilung Fotografie in der Albertina, Walter Moser, folgendermaßen: „,Twilight‘ ist bezeichnend für die intermediale Verortung Crewdsons im Kontext des Films, dem nicht nur Motive und Themen, sondern auch die kleinteilige Arbeitsteilung der Produktionsabläufe entsprechen. Erst die Arbeit mit einem über hundert Personen umfassenden Team (…) ermöglichte es Crewdson, seinen in der Idylle amerikanischer Suburbs spielenden Bilderkosmos zu entwerfen, hinter dessen verführerischer Oberfläche sich unheimliche wie fantastische Elemente verbergen. Crewdsons Rolle ist dabei der Funktion eines Regisseurs vergleichbar, der in seinem Selbstverständnis als ,Auteur‘ seine künstlerischen Visionen zur Umsetzung bringt. Aufgrund der reichhaltigen Anklänge an die Sprache des Kinos und der Filmgeschichte (…) gilt ,Twilight‘ darüber hinaus als Schlüsselwerk für Crewdsons postmoderne Praxis, die oftmals in medial vermittelten Dekonstruktionen des Kleinbürgertums ihren Ausgang nimmt.“ …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 75

 

Gregory Crewdson
29. Mai bis 8. September
Albertina

 

| FAQ 75 | | Text: Oliver Stangl
Share