Nostalgie ist ein gefährliches Pflaster. Oftmals genügt ein Foto, ein Film, ein Song – und sie ist wieder da, die süße Wehmut, das unwiderstehliche Gefühl, dass früher alles besser, toller, aufregender war. Auf den ersten Blick wirkt die Sehnsucht nach der Vergangenheit harmlos. Doch wer zu viel von ihr erwartet, wird meist bitter enttäuscht. Was sie am am ehesten vermag, ist, die Menschen im Rausch der Erinnerung für einen Moment des Glücks zu verbinden. Im Kino funktioniert das besonders gut.
The Bikeriders ist so ein Film, der ein melancholisches Gemeinschaftsgefühl stiftet, das von kurzer, aber intensiver Dauer ist. Kein Wunder, immerhin stammt er von einem Autor und Regisseur, der „zum ersten Mal den Begriff ‚Nostalgie‘ wirklich verstanden“ hat, wie Jeff Nichols im Gespräch sachlich erklärt. Man merkt dem 1978 in Little Rock, Arkansas, geborenen Filmemacher die Leidenschaft für seine Arbeit nicht immer gleich an. In Interviewsituationen wirkt er stets besonnen, zurückhaltend, schüchtern fast. Aber kaum redet er sich warm, spürt man, wie sehr er für die Geschichte, die Figuren, die historischen Umstände brennt, um die es geht. Und es ist seine bedingungslose Hingabe für die Sache, die den ganzen Film wie eine dicke schwarze Ölspur durchzieht.
Inspiriert von Danny Lyons gleichnamigem Foto-Repor-tage-Buch aus dem Jahr 1967, in dem der Fotograf seine Zeit mit dem Chicago Outlaws Motorcycle Club festhielt, erzählt The Bikeriders von fulminantem Aufstieg und fatalem Untergang der fiktiven Motorradgang „The Vandals“ Mitte der 1960er-Jahre. Die atmosphärischen Schwarzweiß-Aufnahmen verfolgten Nichols, seit er den Band 2003 zum ersten Mal in den Händen hielt. Aber es waren die im Buch abgedruckten Interviews mit den Mitgliedern, die ihm als Grundlage für sein Outlaw-Drama dienten, das sich um eine komplizierte Dreiecksbeziehung innerhalb der Gang dreht.
Austin Butler spielt Benny, den jungen Draufgänger im Kreis der sonst eher entspannten Biker-Rebellen. Der in engem schwarzem Leder gekleidete Hipster sieht nicht nur verdammt gut aus, sondern weiß auch genau, wie man damit bekommt, was man will. Auf seinen schmalen Schultern trägt er einen Charakterkopf: lässig, wortkarg und impulsiv. Wenn es sein muss, lässt er die Fäuste sprechen. Gleich in der ersten Szene vermöbelt er zwei Typen, die sich an seinem Outfit stören, derart spektakulär, dass man sich fragt, was jetzt eigentlich noch kommen kann.
Überhaupt fragt man sich bei Butler so einiges, vor allem, wo er so lange geblieben ist. Der 1991 geborene kalifornische Schauspieler war die große Überraschung in Baz Luhrmanns Elvis-Biopic vor zwei Jahren. Aus dem Newcomer wurde über Nacht ein Kino-Rockstar, mit minutenlangen Standing Ovations in Cannes, einem Golden Globe als Bester Darsteller sowie einer Oscar-Nominierung. Seinem bemerkenswerten Durchbruch gingen lediglich zwei kleinere nennenswerte Rollen in Quentin Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood (2019) und Jim Jarmuschs Zombie-Komödie The Dead Don’t Die (2019) voraus. Zum ersten Mal vor der Kamera stand Butler bereits im späten Teenageralter. Doch damals hatte Hollywood noch keine Augen für den schlaksigen Jüngling. Heute ist er vielleicht der „Sexiest Man Alive“. Butlers harte Währung ist eine Mischung aus göttergleicher Schönheit und demonstrativer Lässigkeit. Und sein Benny ist der Coolste von allen, deshalb gefällt er auch Kathy (Jodie Comer) so gut.
Als ihre Blicke sich zum ersten Mal treffen, ist es um beide geschehen. Aber Nichols, da ist der äußerst wachsame Regisseur und Autor wieder ganz in seinem Element, verlässt sich nicht allein auf die attraktive Statur seines Frontmanns. Stattdessen gibt er der Handlung eine raffinierte Struktur, die den Schwerpunkt des Geschehens unmittelbar auf Kathy verlagert, und zwar „nicht nur als Beobachterin, sondern als Teilnehmerin“, beteuert er: „Sie ist mittendrin.“ Für Nichols repräsentiert Kathy „die Widerständigkeit, den Kontrast des Ganzen, das Spannungsfeld Männlichkeit, die Konflikte innerhalb der gesamten Subkultur.“ …
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THE BIKERIDERS
Drama, USA 2023 – Regie/Drehbuch Jeff Nichols
Kamera Adam Stone Schnitt Julie Monroe Musik David Wingo
Production Design Chad Keith Kostüm Erin Benach
Mit Austin Butler, Jodie Comer, Tom Hardy, Michael Shannon,
Mike Faist, Norman Reedus, Boyd Holbrook, Damon Herriman
Verleih Universal Pictures, 116 Minuten
Kinostart 20. Juni