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Das Bild dazwischen

Mit „Watch! Watch! Watch! Henri Cartier-Bresson“ zeigt das Bucerius Kunst Forum in Hamburg eine vielseitige Schau über den „Chronisten des 20. Jahrhunderts“.

Henri Cartier-Bresson, Livorno, Italien, 1933 © 2024 Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

Er will weder Fotograf noch Künstler sein. Wenn er gefragt wird, was er sonst sei, sagt er aufgebracht: „Ich bin ein Mensch! Sonst ist jeder, der sensibel ist, ein Künstler!“ Selbst zweiundneunzigjährig lehnt er Label kategorisch ab: „Du bist entweder am Leben oder nicht.“ Henri Cartier-Bresson ist kein Freund des Intellektuellen. Zumindest nicht, wenn es um seine Arbeit geht: „Ich mache nichts anderes, ich schieße nur Fotos“, so Cartier-Bresson vier Jahre vor seinem Tod in einem Interview mit Charlie Rose im Jahr 2000. Dem französischen Humanisten geht es darum, durch Intuition und Sensibilität aufnahmefähig zu sein. Am Ende des Tages ist das die Fähigkeit, die alles Handeln ermöglicht: die Beziehung zur Realität. Cartier-Bresson bannte diese Beziehung auf Schwarzweißfilm durch das 50-mm-Standardobjektiv einer Leica-Kleinbildkamera. Die Ausstellung „Watch! Watch! Watch! Henri Cartier-Bresson“, die noch bis 22. September 2024 im Bucerius Kunst Forum in Hamburg gezeigt wird, will zur Schau tragen, wie Cartier-Bressons einzigartiges Gespür ihn zum Chronisten des 20. Jahrhunderts machte.

Henri Cartier-Bresson, Berliner Mauer, Westdeutschland, 1962. © 2024 Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

Fotografie als unmittelbare Zeichnung

Schon 1952 beschreibt Cartier-Bresson in seinem Essay „The Decisive Moment“ („Images à la sauvette“) Fotografie als die physische Fähigkeit, den entscheidenden Augenblick festzuhalten. 1908 in die Familie eines Textilfabrikanten hineingeboren, studierte er später Malerei und widmete sich schon ab 1930 fast ausschließlich der Fotografie. Seine Arbeit, die zunächst auch von den Surrealisten beeinflusst war, entwickelte sich bald zur anthropologischen Dokumentation weltpolitischer Ereignisse. Nicht ohne Grund wird Cartier-Bresson als der Urvater des Fotojournalismus angesehen. Dennoch verweigerte er sein ganzes Leben solche Rollenzuschreibungen. Vielmehr war seine Funktion in der Zeitgeschichte einfach nur der Entwicklung der Welt um ihn herum geschuldet. „Du musst leben und schauen“, galt Cartier-Bressons Arbeitsethos. Mit dieser Haltung dokumentierte er etwa den Spanischen Bürgerkrieg oder die Befreiung von Paris im Jahr 1944. Im Jahr 1948 fotografierte er Mahatma Gandhi, wenige Stunden vor dessen Ermordung. Und 1954 war er der erste westliche Fotograf, der in die Sowjetunion eingeladen wurde, um das Leben nach dem Tod Josef Stalins zu dokumentieren.

In einem Interview von 2003 sagte Henri Cartier-Bresson: „Alle fragen mich ständig nach der Fotografie, aber ich glaube nicht an meine Karriere als Fotograf. Beim Fotografieren geht es nur darum, auf den Auslöser zu drücken, den Finger im richtigen Moment nach unten zu bringen.“ Schließlich kam der Franzose aus der Malerei und sah die Zeichnung als Grundpraxis jeder visuellen Arbeit. Nicht ohne Grund nennt Cartier-Bresson das Foto auch die „unmittelbare Zeichnung“. Ab den 1970er-Jahren wandte sich der Künstler deshalb von der Fotografie ab und wieder der Malerei zu. Was beide Disziplinen eint, ist der Blick für die Geometrie und der nach Cartier-Bresson nicht zu erklärende Impuls, sich zum Subjekt seines Bildes hingezogen zu fühlen. Dieses Interesse am Motiv ist auch, was die Bilder des Franzosen so anziehend macht: Ihre Protagonisten werden von ihm durchschaut und bleiben für den Betrachter gleichzeitig undurchschaubar.

Henri Cartier-Bresson, Henri Matisse zu Hause, Vence, Frankreich, 1944. © 2024 Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

„Ich denke nicht an Fotografie“

1947 gründete Henri Cartier-Bresson gemeinsam mit seinen Freunden und Kollegen Bob Capa und David „Chim“ Seymour die Bilder- und Kooperationsagentur „Magnum Photos“: „Capa war ein Optimist, Chim ein Pessimist. Ich war impulsiv“, beschrieb Cartier-Bresson diese Zeit in einem Interview mit Sheila Turner-Seed von 1973. Gemeinsam reisten die drei nach dem Zweiten Weltkrieg in die Kolonialländer und verbrachten unter anderem drei Jahre im Fernen Osten. „An manchen Orten schlägt der Puls stärker als an anderen. Ich wollte dabei sein, wenn eine Situation trächtig war, wenn es die meisten Spannungen gab“, so Cartier-Bresson. Anders als seine Kollegen hielt er nichts davon, das, was und wie er sah, zu „intellektualisieren“. Als überzeugter Anarchist betrachtete er sich eher als ein Baustein der Geschichte, denn als „wegweisender“ Künstler.

Aus denselben Gründen wies er bis zum Ende seines Lebens jegliche Lehre der Fotografie in Kunstschulen von sich. Sie seien „unecht“ und wirkten sich in schlechter Weise auf die Arbeit aus. Im Gegensatz dazu könnte man Cartier-Bressons Magnum-Methode auch als „Learning by Doing“-Approach beschreiben: „Wir arbeiteten zusammen, kritisierten einander und waren mit der gleichen Geschwindigkeit am Werken, manche schneller, manche langsamer“, so der Franzose. Im Endeffekt ginge es im Sehen darum, zurück zu seinem inneren Kind zu finden: „Ich sehe Kinder, die wunderschön malen, bis sie in die Pubertät kommen. Und dann dauert es ein Leben lang, bis man die Qualitäten eines kleinen Kindes wiederfindet.“ Das Unprätentiöse seiner Arbeit zeigt sich auch in der Art, wie er mit seinen eigenen Bildern umging. Er schoss minimalistisch wenige Fotos pro Motiv und eliminierte Negative, die er für nicht brauchbar hielt: „Man sollte nie überschießen. Das ist so, als ob man zu viel isst oder zu viel trinkt. Wenn man auf den Auslöser drückt und bereit ist, noch einmal zu fotografieren, hat man vielleicht das Bild verloren, das dazwischen lag“, so der Künstler im Gespräch mit Turner-Seed …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 76

 

WATCH! WATCH! WATCH!
Henri Cartier-Bresson

Bucerius Kunst Forum
Alter Wall 12, 20457 Hamburg
www.buceriuskunstforum.de

 

| FAQ 76 | | Text: Ania Gleich
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