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Legend

Text: Pamela Jahn | Fotos: Constantin Film

Mütter haben immer Recht, heißt es. Ob sie auch immer die Wahrheit sagen, steht auf einem anderen Blatt. Violet „Mum“ Kray hätte aber wohl auch niemand zu widersprechen gewagt, wenn sie das Blaue vom Himmel gelogen hätte, um Ronnie und Reggie, wie sie ihre Jungs liebevoll nannte, ins überglorifizierte rechte Licht zu rücken. Schon als Kinder seien sie etwas Besonderes gewesen: Anders als alle anderen, aber beide vom gleichen Kaliber – und zusammen unschlagbar. Zumindest fast unschlagbar, wie sich später herausstellen sollte. Denn Ronald und Reginald Kray, wie sie mit vollem Namen hießen, waren mehr als eineiige Zwillinge mit ein paar Flausen im Kopf. Da war das Übliche: Sie sprachen gleich, sie kleideten sich gleich, und sie hatten stets das gleiche im Sinn. Wenn Ronnie krank war, was in Kindertagen ziemlich häufig vorkam, zeigte Reggie oftmals die gleichen Symptome. Doch die enge Verbundenheit zwischen ihnen ging schließlich so weit, dass sie auch den Großteil ihres späteren Lebens miteinander verbringen würden, „beruflich“ und privat. Unter dem Schutzmantel ihrer Bande „The Firm“ terrorisierten die Zwillingsbrüder in den fünfziger und sechziger Jahren von ihrem Zuhause im Ost-Londoner Arbeiterviertel Bethnal Green aus zunächst die Nachbarschaft und bald die ganze Stadt, als eine zweiköpfige Monster-Maschine, die mit unschuldsvoller Miene die übelsten Verbrechen beging, darunter zwei Morde, einer gewaltsamer als der andere, was 1968 zu ihrer Verhaftung und lebenslanger Gefängnisstrafe führte – in getrennten Zellen, an getrennten Orten, ein letztes Mal vereint zur Beerdigung der Mutter im Jahre 1982.

In Brian Helgelands Legend, dem mit Abstand besseren der aktuell zirkulierenden Spielfilme über die notorischen Gangster-Twins (zu den schlechtesten gehört zweifelsohne The Rise of the Krays von Zackary Adler, dem ein zweiter Teil über ihren Untergang zu folgen droht), bekommt die eigengesetzliche Synergie zwischen dem unzertrennlichen Brüderpaar angesichts der Besetzung noch einmal eine neue Dimension. Tom Hardy verkörpert in einem doppelten Kraftakt mit spektakulärer Nonchalance das, was John Pearson in seiner erstmals 1972 veröffentlichten Kult-Krimi-Biografie „The Profession of Violence: The Rise and Fall of the Kray Twins“als „desperate desire to be noticed“ beschreibt: Nach außen hin stets kulant und elegant, gesellig und brutal, berechnend und unberechenbar zugleich, aber immer und vor allem um ihren Ruf bemüht, ob als Nachtclub-Besitzer, Söhne oder organisierte Kriminelle. Was Hardy als Hauptrollenkandidat für Helgeland attraktiv machte, war neben seinem schauspielerischen Können vor allem die Entschiedenheit, mit der der 38-jährige geborene Londoner sämtliche Figuren auf die Leinwand projiziert, wenn er sich erst einmal in eine Rolle verbissen hat, egal ob es sich wie in Bronson (2008) oder Mad Max: Fury Road (2015) um unerschütterliche Einzelgänger handelt oder einen von zwei rivalisierenden Brüdern wie in Gavin O’Connors Warrior (2011) oder John Hillcoats Lawless (2012). 

Auch diesmal stand zunächst die Frage im Raum, wen Hardy denn nun spielen würde, Ronnie oder Reggie? Hardy selbst schien die Antwort längst zu kennen: „It came out that I’d happily have a crack at both of them because neither of the boys seemed enough of a challenge, nor would I want to just play one, because I couldn’t choose between the brothers.“ Abgesehen von den logistischen Herausforderungen, die eine Doppelbesetzung dieser Art für Regisseur und Darsteller mit sich bringt, überrascht Hardys  Aussage insofern, wenn man bedenkt, wie radikal unterschiedlich sich die beiden Brüder im Laufe ihres Lebens in der Öffent-lichkeit präsentieren. Ronald, der laut eigener Aussagen bisexuell war, im Film jedoch offen homosexuell verkehrt, war bei einem Gefängnisaufenthalt 1957 mit paranoider Schizophrenie diagnostiziert worden. Er konnte sich, wieder auf freiem Fuß, nur mit Tabletten im Zaum halten, weshalb er gemeinhin als der gefährlichere, weil unkalkulierbarere der beiden Brüder galt und im späteren Verlauf seiner Krankheit immer skrupelloser, immer gewalttätiger wurde. Aber auch vor Reginald, dem Charmeur und Strategen, war man besser auf der Hut. Er war ein Meister im „cigarette punch“, einer speziellen Technik, bei der er seinem  Gegenüber eine Zigarette anbot, um ihm dann beim Anzünden mit einem Faustschlag den Unterkiefer zu brechen. „If I’d had to choose, I’d probably gone for Ron,“ gesteht Hardy jedoch im Nachhinein, „because there is more meat on the bone to play with. Ronnie was the more mercurial character of the two, an extrovert. Whereas with Reggie, for me, there is no real heart in him. He had to be very galvanised, a Lancelote type character, which I didn’t really feel sat with in terms of what I was aware of about the Krays, and still am. I thought it was a bit more honest to play Ronnie – that sat very well with the dog in me.“

Ganz anders gingen beispielsweise die Zwillinge Garry und Martin Kemp (damals wie heute besser bekannt als Gründungsmitglieder der Band Spandau Ballet) an die Sache heran, als sie in Peter Medaks The Krays (1990) mit nicht selten klamaukartigen Einlagen den Werdegang der gewieften Brüder durchspielten. Reggie entpuppt sich darin als Pate des East End, Ron ist nicht schwul und Mutter Violet, wie sollte es anders sein, ist sowieso die Beste. Im Gegensatz zu Medaks 

Version, die wohlgemerkt nur mit Ronnies und Reggies Einverständnis gedreht werden konnte, überspringt Helgelands Drehbuch, das sich vorrangig auf Pearsons Buch stützt, wohlweislich die dürftigen Kinderjahre, die wilde Boxer-Jugend, die ersten Gaunereien. Stattdessen setzt Legend genau da ein, wo es spannend wird in der Biografie der Krays: Anfang der sechziger Jahre, als das Geschäft blühte, ihre Nachtclubs von Stars und Sternchen frequentiert wurden und die Auseinandersetzungen zwischen der „Firma“ und den gegnerischen Banden, die sich in London zu behaupten versuchten, immer offensichtlicher wurden – bis hin zu den besagten Morden an George Cornell und Jack „The Hat“ McVitie, die ihnen letztendlich das Genick brechen sollten. Cornell war ebenfalls ein Krimineller und Mitglied der Richardson-Gang, die den Krays am hartnäckigsten ihr Revier streitig zu machen versuchten. McVitie dagegen war einer von ihnen, doch auch sein Tod bestätigte lediglich, dass die Krays, wenn es darum ging, ihr Geschäft und damit ihr Gesicht zu wahren, auch vor den eigenen Reihen nicht Halt machen würden. Dabeisein, zumindest auf der richtigen Seite, wollte damals jeder. Die Krays auf dem Zenit ihrer Macht wurden vom Establishment umworben wie die Vorboten einer neuen Ära.

Bis dahin ist die Geschichte der Krays auch außerhalb Englands relativ bekannt und wurde vor allem nach dem Tod der Zwillinge (Ron starb im März 1995 an den Folgen eines Herzanfalls, Reg erlag im August 2000 einer Krebs-erkrankung) in Dokumentationen und Büchern für die Nachwelt aufgearbeitet. Aber US-Regisseur Helgeland, der sich einst mit seinem Drehbuch zu L.A. Confidential (1997) einen Namen gemacht hatte, zieht gekonnt noch ein anderes Ass aus dem Ärmel, um seinen Film auch für ein weniger genre-geschultes Publikum interessant zu machen: Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Reggies erster Frau, Frances Shea, die er 1965 heiratete, bevor sie sich zwei Jahre später mit gerade 23 Jahren durch eine Überdosis Tabletten das Leben nahm. Helgeland verwendet viel Zeit darauf, zu zeigen, wie sich die Beziehung als Dreh- und Angelpunkt für den Fall der Krays lesen lässt. Frances’ durchwachsene Ehe mit Reg steht im Kontrast zu Rons Sexeskapaden unter anderem mit Mitgliedern des House of Lords, wie dem prominenten, konservativen Exminister Lord Boothby, was dem zunehmend gespaltenen Verhältnis zwischen den Brüdern eine weitere Projektionsfläche offenbarte. Denn so eng sie in ihrer Kindheit miteinander verbunden waren, umso deutlicher schienen sich ihre ungleichen Charaktere mit zunehmendem Alter herauszukristallisieren. Darüber hinaus war die Dynamik zwischen den Brüdern nicht nur durch ihr Handeln bestimmt, sondern auch durch ihr verstärkt voneinander abweichendes Äußeres. Sie waren nicht länger identisch, wie sie ihre Mutter in Erinnerung hatte. Ronnie hatte über die Jahre aufgrund der Medikamente an Gewicht zugenommen, wirkte aufgedunsen, seine Stimme klang hohl. Reggie dagegen, stets gepflegt und mit dem Kopf im Wind, kam schließlich über den Tod von Francis nicht hinweg, ließ sich immer mehr gehen und wurde zusehends nachlässiger, nicht nur äußerlich, sondern vor allem auch, wenn es um das Verwischen von Spuren ging. Ihm wurde seine tiefe Trauer um Frances zum Verhängnis, heißt es. Und noch mehr: Im Grunde sei sie der wahre Grund dafür gewesen, warum die Krays und mit ihnen die ganze „Firma“ hinter Gittern landete. 

Wie man die Sache auch dreht und wendet, die Krays waren ganz sicher kein Abfallprodukt der Swinging Sixties, im Gegenteil: Sie waren mittendrin. Gewalt, so cartoonartig sie mitunter im Film daherkommt, stand ganz oben auf der Tagesordnung, und Helegelands Film vermittelt einen marginalen Eindruck davon, wie die Krays ihre Geschäfte zu regeln pflegten. Kontrollierte Gespräche in Bars, Pubs und Cafés, untermauert mit Schlägereien, Verstümmelungen und, wenn es sein musste, Mord. „When you watch the footage that’s available or you listen to Reggie talking, I can see what’s attractive and charming to a point,“ sagt Hardy. „But then it starts to go into another place and that place wasn’t necessarily in the script. So I said to Brian, I need a moment of terror and a moment of horror with both the bothers which the film does provide in the third act of the film, and we needed that terror from him because otherwise we would have gone off on a glamorous road.“

Tatsächlich kann sich auch Legend, trotz bester Absichten, dem Vorwurf der Glamorisierung und Gewaltverherrlichung letztendlich nur schwer entziehen. Wenn man sich Fotos der Brüder anschaut, wie sie damals unter anderem vom Mode- und Starfotografen David Bailey gemacht wurden, dann lässt sich in ihren Gesichtern eine Leere erkennen, eine Gleichgültigkeit, die den Blick nach innen richtet um den Terror nach außen überhaupt erst möglich zu machen. Nur kommt man im Kino mit Gleichgültigkeit nicht sehr weit. Andersherum ist das Böse selten glamourös, da kann auch der charmanteste Schauspieler nichts ausrichten. Dennoch gelingt es Hardy in Legend mehr zu vollbringen, als lediglich seine zwei Männer zu stehen beziehungsweise beiden ein Herz zu geben, das ihnen im wahren Leben zu dem Zeitpunkt vermutlich längst abgegangen war. Er lässt ihnen Raum, changiert zwischen Genie und Wahnsinn, Charme und Brutalität, Verstand und Willkür. Sein Reggie mag mehr Held, sein Ronnie mehr Monster sein, aber Hardy sorgt stets dafür, dass die Grenzen verschwimmen. Nur manchmal schlägt er dabei über die Stränge, lässt er seine  Brüder allzu sehr ins karikaturhafte abrutschen oder überzeichnet sie bis ins Groteske, neigt er zur Maßlosigkeit, wo Mäßigung angebracht wäre. Und doch schafft er die Gratwanderung am Abgrund zwischen Komik und Tragik immer wieder perfekt. Dazu passt, was Helgeland mit seinem Film zeigen wollte: Ein Porträt der Krays, gesehen durch die Augen von Frances, für die Reggie und Ronnie immer unerreichbar, ungreifbar, kurzum: langer than life  waren – wie der Titel, nicht ohne eine gewisse Ironie, suggeriert. Der Mythos der Krays mag fragwürdig sein, aber die Meisterschaft, mit der Hardy beide Charaktere für sich einnimmt und ihnen Gestalt verleiht, macht die bisweilen finstere Antwort, die er in Legend gibt, zu einem Gewinn.   

 

LEGEND

Thriller/Drama, Großbritannien 2015

Regie, Drehbuch Brian Helgeland, nach dem Buch „The Profession of Violence:

The Rise and Fall of the Kray Twins“ von John Pearson 

Kamera Dick Pope Schnitt Peter McNulty Musik Carter Burwell 

Production Design Tom Conroy Kostüm Caroline Harris

Mit Tom Hardy, Emily Browning, David Thewlis, Sam Spruell, Paul Anderson,

Taron Egerton, Chazz Palminteri, Christopher Eccleston 

Verleih Constantin Film, 131 Minuten

www.legend-derfilm.de

Kinostart 8. Jänner 2016

 

 

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