Ich werde verrückt“, notierte Marc Chagall auf einer seiner Skizzen aus dem Jahr 1907. Auf den ersten Blick mag diese Botschaft beunruhigend wirken. Doch schnell zeigt sich eine andere Bedeutung: Das Ver-rücken des russisch-französischen Künstlers wird zu einem kreativen Konzept. Chagall ver-rückt die ganze Zeit – sei es sich selbst oder die Welt, die um ihn herum entsteht. Seine Bilder sind absurd, aber nur selten unsinnig. Zwischen fliegenden Geigern, schwebenden Liebespaaren und sprechenden Tieren eröffnet Chagall eine faszinierende Welt, in der Realität und Vorstellungskraft verschmelzen. Nach Chagall sind beides nur zwei Seiten derselben Medaille. Vom 28. September 2024 bis zum 9. Februar 2025 zeigt die Albertina die facettenreiche und skurrile Welt dieses surrealistischen Künstlers in der Ausstellung „Chagall“.
Zwischen Witebsk und Paris
1887 wird Marc Chagall in Witebsk, einer Stadt im damaligen Russischen Reich (heute Belarus), in eine jüdischen Familie geboren. Er studiert in St. Petersburg an der Kunstschule von Swansewa und später an der kaiserlichen Kunstschule Malerei. Schon früh beginnt er, Kontakte zur russischen, avantgardistischen Kunstszene zu knüpfen. 1910 zieht Chagall nach Paris und trifft dort auf Künstler wie Pablo Picasso und Robert Delaunay. Der junge Maler saugt den Zeitgeist auf; die Einflüsse von Kubismus und Fauvismus sind in den Werken dieser Zeit deutlich zu erkennen. 1914 kehrt er für eine Ausstellung nach Witebsk zurück, doch als der Erste Weltkrieg ausbricht, bleibt er wegen der Grenzschließungen in Russland. In dieser Zeit heiratet er seine Jugendliebe Bella Rosenfeld, und ihre Tochter Ida wird geboren. 1922 emigriert die Familie schließlich zurück nach Paris.
Realer als die Realität
Warum Chagalls biografische Anfänge so wichtig sind, zeigt sich in der Vielzahl von Motiven aus dieser Zeit, die in seinen Bildern auftauchen. Ob Lampen, Stühle, Kühe, Esel, Familienmitglieder oder Rabbis – viele Elemente seiner Kindheit finden auf überraschende Weise ihren Weg in seine Kunst. Das geborgene Zuhause seiner Kindheit wird zu einem Anker, auf den er in allen Lebensphasen zurückgreift. Gleichzeitig spiegeln andere Aspekte seiner Malerei das Zeitgeschehen wider. Am 5. Mai 1941 entzieht das Vichy-Regime Chagall die erst kürzlich erhaltene französische Staatsbürgerschaft. Mit einer Einladung des Museum of Modern Art in der Tasche flieht Chagall mit Familie in die USA. Die Farben seiner Bilder werden dunkler. Auch der plötzliche Tod seiner Frau Bella 1944 markiert den Beginn einer düsteren Schaffensphase.
„Unsere ganze innere Welt ist Realität – und das vielleicht mehr noch als unsere sichtbare Welt“, sagt Chagall und beschreibt damit die Philosophie seiner Zeit. Das phänomenologische „Wie“ der Erfahrung wird zum Motor seines künstlerischen Ausdrucks. Deshalb ist Erinnerung auch ein zentrales Element seiner Realität. In der Erinnerung lösen sich Zeit und Raum auf, und egal ob Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft: Dort wird die subjektive Wirklichkeit zur realen.
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Chagall
Bis 9. Februar 2025
www.albertina.com