Startseite » Michel Piccoli

Michel Piccoli

Text: Jörg Becker | Fotos: Studiocanal

„Dieses Metier ist ein Hurenmetier, wenn man es schlecht ausübt.“ Und zu seinem legendären Charme meint er: „Es ist eher mein Metier, daß mir Charme verleiht als umgekehrt.“ Um dieses Handwerk gut zu machen, brauche es genügend Wahnsinn und Naivität. Seine Abneigung gegen die Bourgeoisie, deren Darstellung im Film er oftmals sein Gesicht geliehen hatte, hat ihn seit seinen jungen Jahren unter der Okkupation nie verlassen, ebenso wenig eine „phobie du capitalisme“ und das Engagement für die Linke. Michel Piccolis Œuvre ist immens.

Der Schauspieler

In „Der unsichtbare Film“ (dt.: 2003; engl. EA: „The Secret Language of Film“, 1994), einem Essay-Band des bedeutenden Drehbuchautors Jean-Claude Carrière, bekannt vor allem durch seine Kooperation mit Jacques Tati, Luis Buñuel und Peter Brook, findet sich eine Passage, die, aus der Vertrautheit mit dem späten Buñuel gewonnen, viel über den Schauspieler Michel Piccoli aussagt: „Zwischen der Arbeit des Drehbuchautors und der des Schauspielers gibt es eine weitere Gemeinsamkeit: Ich bevorzuge die Darsteller, die ich nicht spielen sehe, bei denen Talent und Know-how hinter eine weniger offensichtliche Qualität zurücktreten. Mir gefällt es nicht, zu denken: Wie gut er spielt! Lieber ist es mir, er holt mich zu sich heran, läßt mich gar vergessen, daß er Schauspieler ist, und reißt mich fort – so wie er selbst fortgerissen wird – in eine andere Welt. ‚Ich sträube mich gegen den Exhibitionismus, die überzogene Ausgestaltung, die Tricks, die aufdringliche Schminke. Dasselbe gilt für das Drehbuch. Und natürlich für die Regie. Große Kunst ist niemals zu sehen.‘ In Le charme discrèt de la Bourgeoisie hatte Michel Piccoli, der Buñuel gut kannte, nur einen einzigen Drehtag. Er spielte die Rolle eines Ministers. Die Szene wurde an einem Originalmotiv aufgenommen, in einem vergoldeten Salon. Michel Piccoli war gerade angekommen, in dunklem Anzug, und unterhielt sich mit einigen Technikern. ‚Buñuel nahm mich beiseite und sagte leise: »Sehen Sie sich Michel gut an. Er ist erstaunlich. Er ist ein Minister.«‘ Es stimmte. In der Haltung, im Blick und im Lächeln des Schauspielers war eine kaum sichtbare Veränderung wahrzunehmen. Ohne sein Wissen hatte ihn ein innerer Impuls verwandelt. Eine unmerkliche Verwandlung. Wo wird dieser Impuls ausgelöst? Ein ewiges Geheimnis.“

Bei La Mort en ce jardin / Pesthauch des Dschungels (1956) mit Michel Piccoli sei er einem Mann begegnet, der zu einem seiner besten Freunde wurde, so Luis Buñuel in seinen Erinnerungen „Mein letzter Seufzer“ (1982): „Wir haben fünf oder sechs Filme zusammen gemacht. Ich mag seinen Humor, seine unauffällige Großzügigkeit, seine leichte Verrücktheit und den Respekt, den er mir nie entgegenbringt.“

Als Michel Piccoli seinen Achtzigsten beging, vor zehn Jahren, hatte er gerade seine vierte Regiearbeit fertiggestellt, unter einem Titel, der jeder Feierlaune in der Rückschau zuwiderzulaufen scheint: C’est pas tout à fait la vie dont j’avais rêvé – auf Deutsch: Das ist nicht ganz das Leben, von dem ich geträumt habe (2005). Für das Dezemberheft 2005 des Cineastenorgans „Cahiers du cinéma“ hat man ihm den Posten des Chefredakteurs überlassen und ließ ihn ein ganzes Heft rund um seine Karriere gestalten. Da liest man Briefe von Fritz Lang, Luis Buñuel und Godard, Telegramme von Hitchcock und Renoir, Hommagen von Leos Carax und Cathérine Deneuve, Agnès Varda oder Manoel de Oliveira, ein Gespräch mit Bulle Ogier, Jacques Rivette und Pascal Bonitzer sowie Interviews, die Piccoli selbst mit dem Künstler Christian Boltanski, dem Althistoriker Paul Veyne und der Fotografin Sophie Riestelhueber geführt hat.

Piccoli-Szenen

Mado (1976): „Zu Beginn des Films schläft Michel Piccoli mit der jungen Gelegenheitshure Mado, die ihren Job verloren hat. Der Sex zwischen den beiden ist nur in Großaufnahmen ihrer Gesichter gezeigt. Sie sehen sich dabei an. Sie scheinen sich unendlich sanft mit- und ineinander zu bewegen. Den Moment des Höhepunkts spielt Piccoli dann wie eine schmerzhafte Irritation, wie einen kleinen Stich ins Herz, dessen tödliche Langzeitwirkung ihm aber bewußt ist. Er liebt Mado nämlich und will sie nur für sich. Das will sie jedoch nicht zulassen. Als es dann Piccolis Bauunternehmergeschäft miserabel geht, da verschafft Mado ihm den Kontakt zu jenem Mann, der ihn vor dem Abgrund retten kann. Und damit geht das Drama erst richtig los…“ (Dominik Graf, „Liebesbanalitäten“, F.A.Z., 3.6.2004)

Claude Sautet, der Mann mit dem Gefühl für die sublime mise-en-scène, dessen „Porträts in Bewegung“ von einem trauernden und zugleich unsentimentalen Blick gezeichnet sind auf verpasste Gelegenheiten und nicht geäußerte Gefühle, auf die Unfreiheit, sich zu finden und das Schicksal, sich in Beziehungen zu verstricken – in den Rollen von Sautets Filmen – als Paul in Les choses de la vie / Die Dinge des Lebens (1969), Max in Max et les ferrailleurs / Das Mädchen und der Kommissar (1970) und Simon in Mado (1976) – kann Piccoli als Spiegel der introvertierten Persönlichkeitsanteile des Regisseurs gelten, fokussiert auf sublimes mimisches Spiel, vom Einsatz der Augenbrauen unterstrichen (Vgl. Bettina Karrer: „Unstillbare Sehnsucht. Die Filme von Claude Sautet“, Marburg 2015).

Vincent, Paul, François et les autres / Vincent, Paul, François und die anderen (1975): Ein Sonntagnachmittag auf dem Land unter Freunden, Familien mit Kindern. Ein kleiner Schuppen brennt, weil die Kinder gezündelt haben. Man scheint eine besondere Form französischer Geselligkeit vorgeführt zu bekommen, darin doch auch der Einzelne inmitten von Freunden letztlich allein bleibt, unfähig, sich zu öffnen. Der Gestus von Freundschaft und Solidarität – angesichts realer Sorgen, die man kumpelhaft kaschiert, zeigt sie sich als traurige Pose, oberflächliche Wärme. „Man trennt sich am frühen Abend. Und dann auf einmal ein kleiner, aber eisenharter Streit zwischen dem arrivierten Arzt Piccoli und seiner Frau (Marie Dubois) auf dem Weg zum Auto. Wer ist verantwortlich dafür, dass der Sohn versehentlich die Hütte angezündet hat? Drei, vier Sätze hin und her. Dann sagt Dubois blitzschnell: ,Ich bin schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen. Ich allein bin schuld. Zufrieden?‘ Keine Antwort von Piccoli. Und direkt danach Schnitt: Auf dem Heimweg im Auto in der Dämmerung sieht es so aus, als ob Piccoli am Steuer weint. Die Musik wird dramatischer. Die Kinder hinten auf dem Rücksitz sehen den Vater nicht. Seine Frau sieht es. Sie sagt nichts. Das Ende einer Ehe ist hier in Sicht.“ (Dominik Graf in: D.G./Michael Althen, „Erbarmen mit den Männern“, Steadycam Nr. 47, Winter 2004)

„Wie ein Fisch im Wasser“

Zu den geläufigen Charakterisierungsmustern in den Porträts von Piccoli gehören Sätze wie die folgenden: „Seine Rollen changieren zwischen exquisiter zynischer Bürgerlichkeit (Belle de jour – Schöne des Tages, 1966/67, und Le charme discrèt de la bourgeoisie / Der diskrete Charme der Bourgeoisie, 1972) und engagiertem Anarchismus (Claude Faraldos Themroc). Piccoli bevorzugt doppelbödige Figuren, deren Soigniertheit Obsessionen verdeckt und unvermittelt in kriminelles Verhalten umschlägt, besonders eindrucksvoll und boshaft mit Stephane Audran als Partnerin in Claude Chabrols Les noces rouges.“ („Lexikon- Filmschauspieler International“, Berlin 1995). Jubiläumsfeuilletons deutschsprachiger Zeitungen tragen Titel wie „Adel der Gebärden“, „Schöner Querulant“, „Der Souverän“, „Elegante Misogynie“, „Der indiskrete Charmeur“, „Der König lebt“, „Der bürgerliche Vorbehalt“ oder „Das Wunder der Nähe“.

Abgründigkeit, Doppelbödigkeit, Undurchsichtigkeit sind die meistgenannten Ausdruckskonstanten, auch Verführungskunst: Piccoli als einer der großen Verführer des Kinos, ein souveräner Vertreter bourgeoiser Gelassenheit, jenem an ihm hängenden Stereotyp für eine Lebensart „diskreten Charmes“, etwa in Filmen von Claude Chabrol und Claude Sautet, seit Luis Buñuel jene „Marke“ auf die Leinwand gebracht hatte. Beunruhigend als Grandseigneur – der elegante Mann im Anzug, perfekter Vertreter seiner Klasse, der bei allem unberechenbaren Charme in seiner Darstellung auch die Zwänge durchscheinen lässt, die deren Mitgliedern oktroyiert sind, und zugleich die Lust an deren Sprengung. Mit Savoir-vivre, melancholisch wie ironisch, gelingt es Piccoli in Rollenbildern, den Gegenspieler ebenso wie den Zuschauer ohne jede Anstrengung zu bannen. Noch die kleinsten, scheinbar unbedeutendsten Auftritte verströmen eine Würde, die intrigante Absichten, dunklen Antrieb oder auch Motive von Moral durch Piccolis Ausdruck adeln. Jene kultivierte Repräsentanz hat er beizeiten mit ihrem Widerspruch konfrontiert und sein distinguiertes Rollenimage ins Dekadente, Perverse hin ausgedehnt – legendäre skandalträchtige Titel der siebziger Jahre stehen dafür: Le trio infernal (1974, Francis Girod), La grande bouffe / Das große Fressen (1973, Marco Ferreri) und Themroc (1973, Claude Farraldo). Die kultivierte Bürgerklasse und ihr Abgrund, Strafe der Hybris, Verworfenheit, anarchische Destruktionslust hinter einer Fassade aus Sitte und Anstand. „Ich will nicht sagen, dass ich den Wahnsinn liebe, ich habe Angst vor dem Wahnsinn. Aber den Wahnsinn spielen und durch die Maßlosigkeit die Geheimnisse eines Menschen zeigen – da fühle ich mich wie ein Fisch im Wasser.“ – „Fast wäre man versucht zu sagen, daß er dabei immer sein Gesicht gewahrt hat“, so hat Michael Althen es in einem F.A.Z.-Artikel zu Piccolis Achtzigstem formuliert, „wenn man nicht wüßte, daß er vielleicht nichts so sehr wollte, wie sein Gesicht zu verlieren“.

„Wie ein ewiges Kind“

Der neu gewählte Papst fällt aus der Rolle – und verzichtet. Er lehnt die Macht ab, weil er seine Grenzen erkennt und Verantwortung zeigt. Mit 85 Jahren spielt Piccoli in Nanni Morettis Habemus Papam (2001) einen Mann, der sich fragt, ob er für ein solches Amt der Richtige ist: „Ihm fehlt die Vorstellungskraft für seine beiden großen Leidenschaften: Religion und Theater“, urteilt Piccoli. „Ich habe ein Zuwendungsdefizit“, erzählt er als aus dem Vatikan Entflohener über seine psychoanalytische Behandlung des morgens beim Bäcker, „aber ich weiß nicht, was das sein soll.“ Und da ist dieser Ausdruck Piccolis, eine Weisheit des Alten, die sich überschneidet mit der enormen Beeindruckbarkeit der Sinne, die man eigentlich nur auf Kindergesichtern wahrnimmt. Es gibt eine Szene, in der die Mitglieder des Konzils ein Theater betreten, während der laufenden Vorstellung von Tschechows „Die Möwe“, und plötzlich wendet sich der Applaus, den die Kardinäle dem Bühnengeschehen entgegenzubringen scheinen und der vom Publikum aufgegriffen wird, dem gewählten Kardinal, dem seitlich in der Loge sitzenden Piccoli, der im Ensemble gewissermaßen Zuflucht gefunden hat, zu – eine gelungene Hommage an den Schauspieler.

„Je öfter ich mit der jungen Generation arbeite, zum Beispiel mit Sandrine Bonnaire (La Puritaine, 1986; Jacques Doillon), Nastassja Kinski (Maladie d’amour, 1987; Jacques Deray) oder Leos Carax (Mauvais sang / Die Nacht ist jung, 1986), desto mehr fühle ich mich in meine Jugend, in meine Kindheit zurückversetzt. In Shakespeares ,Wintermärchen‘ spielte ich mit dem Holzpferd des Königssohns. Und fühlte mich schlagartig erinnert an die Spiele und Träume meiner Kindheit“, so Piccoli 1989. „Ich habe einen Bruder gehabt, der vor meiner Geburt gestorben ist. Meine Mutter hat immer gesagt, sie fand die Geburt ekelhaft. Ohne jenen Tod hätten meine Eltern mich nie gemacht. Der andere musste ersetzt werden. Aber ich, ich liebe die Kindheit, und ich lebe wie ein ewiges Kind.“, so Piccoli 2006. „Für meine Eltern war der Kleine natürlich ein wunderbares Kind gewesen, aber ich fühlte mich als sein Ersatz keineswegs wunderbar, verstehen Sie?“, so Piccoli 2011.

Some Came Running

In Agnes Vardas Les cent et une nuits de Simon Cinéma (1995), ihrer Hommage an hundert Jahre, verkörpert der fast siebzigjährige Piccoli den greisen, aber als Verstellungskünstler äußerst vitalen Monsieur Cinéma selbst – „Ich bin Piccoli … Der mit Bardot gedreht hat!“ – Die beste vorstellbare Besetzung, die nahezu vergessen lässt, dass Piccoli, der Spross einer seit langem in Paris ansässigen Musikerfamilie, eine mindestens ebenso gewichtige Theatervergangenheit besitzt: in seiner Heimatstadt leitete er zwei Jahre (1952–1954) das kleine Théatre de Babylone, war im Anschluss Mitglied der Compagnie von Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault und spielte darüber hinaus im Théatre National Populaire. Nach einer ersten kleinen Filmrolle in Christian-Jacques’ Sortilèges (1945) wurde er erst wirklich in den realistischen Filmen unter der Regie von Louis Daquin entdeckt: Le point du jour / Vor Tagesanbruch und Le parfum de la Dame en noir / Das Parfüm der Dame in Schwarz (beide 1949). In Le point du jour des KPF-Mitglieds Daquin als junger Minenarbeiter in einem nordfranzösischen Kohlebergwerk, in Le parfum … als Privatfahnder in ominösen Kreisen. In Destinées / Liebe, Frauen und Soldaten(1953) von Jean Delannoy spielte Piccoli in der Jeanne d’Arc-Episode einen Pater, der an Johanna von Orléans (Michèle Morgan) glaubt. Jean Renoir sah Piccoli auf der Bühne und engagierte ihn sofort für eine kleine Rolle in French Can Can (1954).

Bedeutend für Piccoli wurde die Begegnung mit dem gleichaltrigen Paul Paviot, der sich auf Genreparodien des amerikanischen Trivialkinos in Kurzfilmformat spezialisiert hatte und Piccoli in den Hauptrollen als Frankensteins Monster, den schönen Cowboy Tommy Gaudechote oder als G-Man Slim besetzt. Die Rolle des Priesters in La mort en ce jardin brachte ihm nicht allein den freundschaftlichen Kontakt mit Regisseur Luis Buñuel, sondern auch den Zugang in den höheren Orbit der Filmkunst, obgleich vorerst nur typische Nebenrollen folgten – Kommissare, Journalisten oder, in Jean-Pierre Melvilles Le Doulos / Der Teufel mit der weißen Weste (1962), die Rolle des Nachtclubbesitzers Nuttheccio, einer präzis konturierten zwielichtigen Figur eines Geschäftsmanns mit kriminellem Hintergrund, eines Typus, dessen kalte Noblesse imponiert. Ein Jahr darauf begann ausgerechnet mit dem Engagement für Jean-Luc Godards Le mépris / Die Verachtung (1963) nach dem künstlerischen auch der kommerzielle Erfolg – an der Seite von Brigitte Bardot. („Ihre Rolle ist eine Figur aus Marienbad, die die Rolle wie eine Figur aus Rio Bravo spielen will“, soll Godard Michel Piccoli erklärt haben). Vielleicht hat manch einer noch den seltsamen Klang aus der Originalfassung des Films im Ohr, als Piccoli alias Schriftsteller Paul im gemeinsamen Neubauappartement, für dessen Kauf er das „Drehbuch-Doctoring“ am Odysseus-Film – mehr nackte Meerjungfrauen statt griechischer Götter – für den amerikanischen Produzenten, den Finanz-Barbaren, überhaupt eingeht, hier mit der Zigarre im Mund in der Badewanne sitzt und selbst da nicht, in diesem Film überhaupt nicht, seinen Hut ablegt, aus Verehrung für Dean Martin. So erklärt er seiner Frau Camille/Brigitte Bardot in dem Moment, da sie ihm gerade eröffnet hat, dass sie ihn nicht mehr liebt, der Film mit Dean Martin laufe im Kino – Some Came Running (Verdammt sind sie alle, 1958, Vincente Minelli) –, und in der Originalversion hört man diese seltsame französische Intonation („rünning…“), die einem nicht mehr aus dem Kopf geht. Piccolis Filmschauspielkarriere, für die Le Mépris, mit dem Godard nach eigenen Worten „eine Vorstellung von Leuten im Kino“ geben wollte, die einen Film über die Odyssee machen, eine zentrale Stellung einnimmt – diese inzwischen siebzigjährige Karriere hat selbst etwas von einer langen Odyssee durch das europäische Kino, von den Pariser Theaterbühnen nach der Befreiung von der Okkupation bis hin zur Rolle des müden, alt gewordenen Schauspielers in Manoel de Oliveiras Je rentre á la maison (2001), dem ein Unfall die Kinder genommen hat, und der, viel herumgekommen, seine Tage nun dem ihm gebliebenen Enkel widmet, bis zur Reprise von Buñuels Belle de jour (1966/67) mit Oliveiras Belle toujours (2006) oder darüber hinaus zu Habemus papam, Piccolis Verkörperung eines Kardinals, dessen Herz am Schauspiel hängt und der die Wahl zum Papst nach großer innerer Auseinandersetzung ablehnen muss.

Jonglieren mit Widersprüchen

Dazwischen die Galerie der Diven der sechziger und siebziger Jahre, mit denen der homme à femmes gedreht hat: Jeanne Moreau, Cathérine Deneuve, Anouk Aimée, Sophia Loren, Stéphane Audran, Ornella Muti und vor allem Romy Schneider – sechs Filme mit ihr, vor allem für Claude Sautet, und auch ihren letzten: La passante du Sans-souci / Die Spaziergängerin von Sanssouci (1982, Jacques Rouffio). Ende der Sechziger drohte Piccoli durch eine TV-Produktion als Dom Juan in Dom Juan ou Le Festin de Pierre / Dom Juan oder der steinerne Gast (1965, Marcel Bluwal) auf das Rollenfach des romantischen Verführers festgelegt zu werden – und schon konterkarierte er sein Image, wechselt ins Grotesk-Bizarre mit Marco Ferreri- und Claude Farraldo-Filmen, Werken von Francis Girod und Luis Garcia Berlanga, in denen er den Steinzeitkannibalen gibt und in Apartmenthöhlen Polizisten am Spieß brät (Themroc), als sexuell devianter Erotomane mit einer aufblasbaren Gummipuppe verkehrt (Grandeur nature), als perverser Abkömmling des Mörders Landru, flankiert von zwei hörigen Frauen (Romy Schneider, Mascha Gonska), seine Leichen in der Badewanne in Salzsäure auflöst (Le trio infernale), oder durch die sprichwörtlich gewordenen Fressorgien eines zum Luxustod entschlossenen Bürgerquartetts an einer monströsen Diarrhöe jämmerlich zugrunde geht (La grande bouffe).

Piccoli hat sich im Spiel oft buchstäblich entblößt, monströse Facetten seiner selbst offenbart, zwischen widersprüchlichen Universen navigiert. „Vielleicht steckt in mir eine Art satanischer Clown. Sobald die angenehmen Seiten in mir Oberhand gewinnen, packt mich die Lust nach Konträrem. Also spiele ich das eine gegen das andere aus, zerstöre jedes Bild, wenn es sich aufdrängt. Es macht mir Spaß, mit meinen Widersprüchen zu jonglieren.“ (1989) Der schamhafte Musikalienhändler mit dem kuriosen Namen Monsieur Dame, ein zartfühlender Liebhaber von melancholischer Innerlichkeit, ist die erste Rolle, die Piccoli für Jacques Demy in dessen filmischem Musical Les Demoiselles de Rochefort (1966) übernimmt. Konterkariert erscheint dieser Auftritt durch Piccolis Part des gefährlichen, dämonisch eifersüchtigen Fernsehhändlers in Jacques Demys durchweg gesungenem Film Une chambre en ville (1982), Edmond, mit rollenden Auge und wilden Gebärden ebenso furchteinflößend wie lächerlich, der in einem Aquarien-atmosphärischen Geschäft vor laufenden Monitoren in den Passagen von Nantes seiner Frau, die die Liebe an anderem Ort findet, mit einem Rasiermesser auflauert, das er gegen sich selbst wendet. Ein schaurig-grotesker Auftritt: Piccolis Pantomime, drei gewaltige Ausbrüche, im Playback. „Er hat nur exzessive Szenen, Szenen, wie man sie seit der Zeit des Stummfilms nicht mehr zu drehen wagte, und er trägt sie mit einer Gestik, die vor nichts zurückschreckt.“ (Pascal Bonitzer, „Das brennende Zimmer“, 2003)

In Une étrange affaire / Eine merkwürdige Karriere (1981, Pierre Granier-Deferre) verkörpert er eine rätselhafte, exzentrische Machtfigur, einen Manager, der als neuer Vorstand eine große Warenhauskette in den Aufschwung führen soll und auf Anhieb einen jungen Angestellten der PR-Abteilung (Gérard Lanvin) zu seinem Vertrauten erwählt, mit sicherem Instinkt für dessen Sehnsucht nach einem Vater, der abwesend, nicht greifbar war, als der Junge ihn gebraucht hätte. Aufgrund dieser unbewussten Vatersehnsucht seines engagierten Mitarbeiters vermag Piccoli – anscheinend im Besitz des Schlüssels zu einem Leben ungekannter Selbstbestätigungen und dekadenter Genüsse, nun eine Zeitlang dessen „machiavellistischer Mentor“ (Gerhard Midding) – mit der ihm eigenen désinvolture, einer entwaffnenden Ungeniertheit und Vehemenz, in das Leben des bis dahin glücklich verheirateten jungen Mannes zu treten, diesen zur bedingungslosen Aufgabe seiner privaten Interessen zu verführen, ihn nahezu willenlos zu machen und der Fähigkeit zu berauben, nein zu sagen, so dass dieser schließlich, als Piccoli sich mit einem Mal mysteriös absentiert hat, hin zu neuen Aufgaben, leer, wie identitätslos, ohne Familie und Freunde dasteht. Was bleibt, ist der Mangel seit früher Kindheit, der nun in dem Verlassenen widerhallt.

Für die Akzeptanz eines Stoffes, einer Rolle ist ihm die Persönlichkeit des Regisseurs ebenso ausschlaggebend wie eine ihm plausible Beantwortung der Frage, warum dieser ausgerechnet ihn für seinen Film haben wolle. „Als ich mit Marco Ferreri Das große Fressen drehte, hat er zu mir gesagt ,Jetzt aufstehen‘ oder ,Bitte setzen‘, das war alles. Ich hatte das Glück, einige sehr schweigsame Regisseure zu treffen.“ (SPIEGEL, 5.12.2011) Als eine Assistentin ihm 1991 für Rivettes grandiosen Balzac-Film La belle noiseuse / Die schöne Querulantin die Rolle des Malers Frenhofer anträgt, der von einem an der Eroberungslust erst allmählich Gefallen findenden Modell (Emmanuelle Béart) aus seiner Schaffenskrise geholt werden sollte, war seine Antwort: „Was? Rivette? Mir egal, worum es geht, ich sage zu. Ich spiele gern den Maler, aber wenn er will, übernehme ich auch die Rolle des Modells.“ Von Otar Iosseliani angeregt, eine alte Dame von epikureischer Altersweisheit zu spielen für seinen Film Jardins en automne / Gärten im Herbst (2006), ließ sich Michel Piccoli auf die Travestie ein und betrachtete sich im Spiegel: „Ich war meiner Mutter ähnlich wie ein Wassertropfen dem anderen.“ (Le monde, 19.01.2006)

Piccoli schlüpft nicht in Rollen, vielmehr versteht er es, Figuren aus der eigenen Präsenz heraus zu schaffen, begabt mit aller Fähigkeit zur Ambiguität deren Darstellung: In der Balance zwischen vollendet scheinender Contenance, einer selbstbeherrschten weltgewandten Haltung mit dem Profil eines Aristokraten der Gegenwart, in seinen späteren Filmen einer abgründigen patriarchalen Autorität – und als „Nachtseite“ dazugesetzt eine unberechenbare Triebhaftigkeit, die sich in kurzen jähzornigen Ausrastern, in Zynismen und Sadismen äußert, gleichwohl im vollen Bewusstsein der standesgemäßen Lebenslügen jener Klasse, die er zu repräsentieren hat. Stets lassen die Risse in der Fassade Leidenschaften erahnen, zeugen die eruptiven Szenen von heftigen Entladungen eines aggressiv gehemmten, verschlossenen Typus, an dessen selbstkontrollierter Abwehrhaltung, die oft lakonisch und unerreichbar weit fort wirken, die Gesichtszüge, die Augen vor allem etwas von der Anspannung verraten, unter der die Person lebt, von der Geschäftsmäßigkeit, mit der ihr Begehren in Schach gehalten wird. Und es fragt sich: Was haust hinter dieser Stirn?

Schauspiel-Träume

„Mein Traum wäre gewesen, dass Robert Bresson, ohne mich jemals auf der Leinwand gesehen zu haben, mich eines Tages auf der Straße anhält, um mir eine Rolle vorzuschlagen. Ich hätte geantwortet, dass ich zu viel Arbeit im Büro hätte, mein Leben als Darsteller wäre ausgefüllt.“ (1997)

Eine Vision des „Invisible Man“ nach H.G. Wells hatte Piccoli früh fasziniert, mit ihm hatte er seinen Helden gefunden, und einen bleibenden „surrealistischen Traum, „im Leben unsichtbar zu sein und mich auf der Bühne in Bandagen einzurollen, Gestalt zu gewinnen, etwa des Don Juan oder des Zahnarztes, des Flic oder des Arschlochs [salaud]. Das wäre eine wunderbare Farce. (…) Ich träume. Ich spiele mit Bresson als Schauspieler, wobei ich mein schauspielerisches Handwerk vergesse. Dennoch glaube ich, dass ich diesen Traum einmal realisiert habe in dem Film von Marco Ferreri, Dillinger est mort [1969]. Im Raum dieses Drehs habe ich alle Tricks des Schauspielers vergessen. Ich war wahrhaftig ein unsichtbarer Mann geworden, nur meinen Kopf hatte ich verliehen. Wer kennt das Gesicht von Grock, dem Clown? So ist die unmögliche Wette: alle Akteure müssen und wollen bekannt sein, wollen erkannt, fixiert werden von der Öffentlichkeit, von den Zeitungen und Magazinen, während ich mir wünschen würde, dass meine Figur, gekleidet in einen Anzug aus Licht oder eine falsche Nase, mir Anonymität verleiht.“ („Dialogues egoïstes“, 1976)

Reprise des Theaterspielens

Weit über zweihundert Filme hat Piccoli gedreht, und das ist nur die eine Hälfte seines Schaffens, le cinéma – auf der Bühne war es von Barrault und Brook bis Chéreau, Luc Bondy und André Engel die Crème de la crème der Regie, mit der er gearbeitet hat. „Ich hatte das große Glück, als Theaterschauspieler zu beginnen. Und dieses Métier habe ich immer versucht, mir zu erhalten, neben dem Film.“ So Piccoli anlässlich des „John Gabriel Borkman“-Gastspiels im Frankfurter Schauspiel 1993. „Es ist sehr gefährlich, sich als Star zu fühlen und sich darauf auszuruhen. Ein Schauspieler, der kein Theater mehr macht, wird faul. Ich sehe schon einen qualitativen Unterschied zwischen der Arbeit am Theater und der im Film oder fürs Fernsehen. Als Schauspieler sage ich: Beides gehört zu meinem Beruf. Als ‚Citoyen‘ sage ich: Ich würde manchmal gerne eine Bombe in Richtung Fernsehen schleudern. In Frankreich und in Deutschland.“

Auf der Bühne galt seine Vorliebe der Moderne – siehe Patrice Chereaus Inszenierung der Bernard-Marie Koltès-Uraufführung „Der Kampf des Negers und der Hunde / Combat de nêgre et de chien“ (1983). Nach einer Theaterpause (1971–1981) begann Piccoli von neuem mit Tschechows „Kirschgarten“ in einer Inszenierung von Peter Brook, 1984 spielte er neben Bulle Ogier die Rolle des Friedrich Hofreiter in Luc Bondys Inszenierung des Arthur-Schnitzler-Stücks „Das weite Land / Terre étrangère“ (verfilmt 1987): „Als wir anfingen, war das in der ersten Phase wirklich verrückt. Es ging nicht mehr darum, daß Piccoli eine Figur spielt, sondern vielmehr darum, daß er so schnell unterbewußt zu dieser Figur wurde, daß er zum Schluß selbst genauso eklig war wie der Friedrich Hofreiter, den er spielte. Das heißt, die Identifikation mit der Figur wurde irgendwann so stark, daß Kälte und Brutalität dieser Figur gar nicht mehr von ihm selbst zu trennen war… Es war einfach eine Mischung aus Amt und Über-Identifikation. (…) [D]as ist eben seine Qualität: Seine Sicherheit zu wissen, daß er einfach so gut ist, daß er auch eine Erscheinung sein darf.“ (Bondy, 1993) Noch nie zuvor habe er einen Schauspieler „so fremdeln sehen“, erklärt Luc Bondy zu jener Szene Piccolis in dem Schnitzler-Stück, als den misstrauischen Hofreiter der Verdacht überkommt, dass der tote Freund etwas mit seiner Frau gehabt habe. Schließlich der Streit, der sich zu einem Duell, zu einem Zweikampf auswächst: Da versucht Piccoli, seine Jacke – mit einer Hand – so schnell aufzuknöpfen, sich ihr zu entledigen wie nur möglich. „105 andere Schauspieler würden bei jedem Knopf einen neuen Ausdruck ihrer Seelenlage spielen, also dabei eine ganze Geschichte erzählen. Bei Piccoli war das Großartige: er hat das Ding ratsch aufgemacht, als handle es sich um Druckknöpfe – in einer fast matadorhaften Bewegung. Ich meine, das ist ein Charakteristikum… Für mich zeichnet sich ein großer Schauspieler dadurch aus, wie er mit seinen Requisiten umgeht, mit einem Glas, mit einer Zigarre, mit einer Streichholzschachtel – ganz egal in welchem Milieu es passiert. (…) Piccoli ist ein Schauspieler, der auf diese kleinen Dinge baut. Er fragt sich: Wie würde so ein Typ ein Requisit berühren.“ (Luc Bondy, 1993)

Es folgten mit Bondy, ebenfalls am Théatre Nanterre, Shakespeares „Ein Wintermärchen“, und 1992 die Titelrolle in Henrik Ibsens „John Gabriel Borkman“ – der Träumer, das Kind und der wunderliche Alte, versammelt hinter der Maske der Bürgerlichkeit. „Piccolis Borkman ist ein Genie der Lebensliebe aus gewissenloser Kindlichkeit, ein Lebensspieler und Lebenskünstler, der die Partie nie aufgibt“, schrieb Gerhard Stadelmaier in der F.A.Z.. Nach der gemeinsamen Theaterarbeit holte Luc Bondy Michel Piccoli auch nach Wien, wo dieser vor 100.000 Menschen auf dem Heldenplatz gegen Haider redete.

„Ich habe keine Lust, als gealterter Schauspieler zu enden, dem man den König Lear zu spielen anbietet“, so hat Michel Piccoli 1997 „Le monde“ anvertraut, zur Zeit, als er seinen ersten Langfilm fertigstellte, Alors voilà. Knapp zehn Jahre darauf erschien sein dritter langer Film, und im Théatre de l’Odéon wurde der „Lear“ mit Piccoli aufgeführt. „Niemals habe ich auf der Bühne eine Figur interpretiert, die ich schon einmal von einem anderen gespielt gesehen hätte. Ich will jungfräulich herangehen, rein und frei von aller Reminiszenz. Sonst würde ich respektlos dem großen Shakespeare gegenüber. Ich hoffe, ihm treu zu bleiben, seiner würdig zu sein, doch bringe ich die Vulgarität eines senilen Mannes zur Geltung.“ („Le monde, 2006“) „Ein dominierender Charakterzug lässt sich bei Piccolis Lear nicht ausmachen; das Mischungsverhältnis von beginnender Senilität, Altersstarrsinn, Herrschsucht, Übermut, Jähzorn und Spiellust ändert sich je nach Moment. (…) Der von Piccoli mit hypnotisierender Überzeugungskraft verwirklichte Ansatz, Lear nicht als lamentierendes Opfer, sondern als sprachverliebten Akteur, als verspieltes altes Kind zu zeigen, verleiht der Aufführung eine traumhelle Leichtigkeit.“ (Marc Zitzmann, NZZ, 23.01.2006) „Michel Piccoli hat auf dem Theater manchmal die Tendenz, mit Kunstpausen, Kunststammeln und Kunstgesten einfach Michel Piccoli zu spielen, wie unlängst in Peter Brooks Dramatisierung von Tschechows späten Liebesbriefen. Hier jedoch geht sein sperriges Greisengehabe prächtig in der Rolle auf.“ (Joseph Hanimann, FAZ, 21.01.2006)

Es muss 1980 während der Berlinale gewesen sein, als Michel Piccoli als Darsteller der Hauptfigur in Hans Noevers Festivalbeitrag Der Preis fürs Überleben (1980) auf den realen Bernhard Minetti getroffen war. Auf Pressefotos meint man ihm eine gewisse Begeisterung anzusehen beim Blick auf ein schauspielerisches Vorbild. Fast dreißig Jahre später: „Minetti“ (in der Theaterinszenierung eines Thomas-Bernhard-Stücks in Paris, Théatre Nationale de la Colline, 2009), ist Piccoli in der Hauptrolle des Schauspielers zu sehen, der nur Lear sein will, und das Stück scheint wie eine Verlängerung des Lear, doch hier ohne den dazugehörigen Bernhard-Furor, bar seiner insistierenden Wut. „Michel Piccoli trifft mit seinem Kunststammeln genau den Ton, der in den Lücken der Monologe all das Ungesagte einer verstummten Künstlerlaufbahnmithören lässt.(…) Alles Extravagante, Demonstrative, silvesterhaft Verschneite in der Minetti-Figur ist hier auf deren menschliche Normalmaße heruntergeholt. Piccolis ausladende Gestik endet immer wieder als Handbewegung vor dem Mund, als gälte es, zu groß angelegte Worte kleinzukneten.“ (Joseph Hanimann, FAZ, 13.01.2009)

Metier und Analyse

Ein erstaunliches Statement des Schauspielers findet sich in den „Cahiers du cinéma“ zum Achtzigsten – er versuche so zu spielen, wie Edward Munch gemalt habe: „Wenn man seine Bilder aus der Entfernung betrachtet, kann man seine Gegenstände klar erkennen, einen Baum oder jemanden, der schreit. Wenn man näher tritt, findet man Unordnung und Durcheinander. Tritt man zurück, verschwindet das Chaos wieder, aber die Erregung bleibt. Das beeindruckt mich sehr: Wie schaffen es Maler, ihre Bilder aus der Nähe heraus zu erfinden? Für mich ist das wie ein Wunder.“ Ein Gleichnis für das Wunder seiner Schauspielkunst?

„Als Schauspieler lasse ich mich nie in eine Rolle involvieren. Wie ein Marionettenspieler trage ich die Figur neben mir her. Sicher fließen gewisse Dinge von mir in die Figuren. Aber um das herauszufinden, müßte ich eine doppelte Psychoanalyse machen, eine von der Figur und eine von mir. Aber ich will die Antworten gar nicht wissen. Bin ich teuflisch im Leben, bin ich zärtlich? Ich weiß es nicht.“ (1986) Dieses Thema hört sich zwanzig Jahre später so an: „Wenn ich an all die Monster denke, die ich gespielt habe, all die zweifelhaften Leute, all die widerwärtigen Abgründe, die einem Angst machen, glaube ich, dass dies für mich eine Art ist, meine Geheimnisse auszudrücken. Schauspielerei ist ein deplatziertes, unpassendes Métier. Ich psychoanalysiere mich durch meine Figuren zur gleichen Zeit wie ich diese durch mich hindurch analysiere.“ („Le monde“, 19.01.2006) Piccoli sprach auch über cholerischen Ausbrüche, wie jene um den „Scheißlammbraten“ in Vincent, François, Paul et les autres – in solchen Momenten spiele er nicht, da sei er er selbst, empfand es der Regisseur Claude Sautet. Dann habe er seinen Rollen in eine hoffnungslose Dimension versetzt, die an Wahnsinn grenze.

Als man ihn im SPIEGEL-Interview 2011 anlässlich von Habemus Papam nach einem eventuellen Schlussakkord fragt: „Schlussakkord? Ich bin Künstler. Künstler sind für die Ewigkeit!“

 

Michel Piccoli: Dialogues égoïstes.

(avec la collaboration d’Alain Lacombe). Paris 1976

Heiko R. Blum: Michel Piccoli. Seine Filme – sein Leben. München 1993

Cahiers du cinéma. N° 607, décembre 2005

(Numéro special: Michel Piccoli – redacteur en chef)

Jacques Zimmer: Piccoli. Grandeur nature

(avec la collaboration de Marie-Christine Luton). Paris 2008

Michel Piccoli als Filmregisseur:

Contre l’oubli (1991); Train de nuit (1994); Alors voilà (1997);

La plage noir (2001); C’est pas tout à fait la vie dont j’avais revé (2005)

 

| FAQ 35 | | Text: Jörg Becker | Fotos: Studiocanal
Share