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MUMBAI BLUES

Payal Kapadias Spielfilmdebüt „All We Imagine as Light“ ist eine der sinnlichsten Kinoerfahrungen dieses Jahres. Im Interview spricht die indische Regisseurin über Frauensolidarität, die Macht abwesender Männer und den Zauber von Mumbai bei Nacht.

Foto: Polyfilm

Ein samtroter Reiskocher, Made in Germany. Keine Karte, kein Absender. Nichts. Prabha kann nur erahnen, dass das anonyme Paket, das ihr gerade zugestellt wurde, ein Geschenk ihres Mannes aus der Ferne ist. Vor Jahren ist er nach Deutschland gegangen, kurz nach der Hochzeit haben sich ihre Wege getrennt. Seitdem lebt Prabha auf sich gestellt in der Millionenmetropole Mumbai. Die Tage der Krankenschwester sind lang, doch das stört die fürsorgliche Inderin nicht. Sie wird gerne gebraucht und hilft, wo sie kann. Zuhause erwartet sie schließlich niemand außer einer Katze und Anu, eine junge Kollegin, die bei ihr zur Untermiete wohnt.

Als Prabha von Anus Romanze mit einem Muslim erfährt, ist sie zuerst schockiert und empört. Aber es gibt noch ein dringenderes Problem, dem sie sich verpflichtet fühlt: Parvati, die Köchin im Krankenhaus, steht kurz davor, ihre Wohnung zu verlieren. Einen Mietvertrag gibt es nicht, und seit ihr Mann verstorben ist, hat die Witwe auf ihre eigenen vier Wände keinen Anspruch mehr. Als einziger Ausweg bleibt ihr, in die alte Heimat zurückzukehren, ein Dorf in Ratnagiri, mit Blick auf das Arabische Meer.

Aus dieser ungewöhnlichen Konstellation dreier Frauen, die jede für sich und gemeinsam in Mumbai mit ihrem Schicksal hadern, hat die indische Regisseurin Payal Kapadia ein sensibles Generationenporträt geschaffen, das voller Anmut und Sanftheit strahlt, auch bei Nacht. Zu Beginn des Films gleitet die Kamera langsam durch die Dunkelheit und fängt Stimmungen ein: Einheimische und Zuwanderer erzählen aus dem Off vom magischen „Geist“ der geschäftigen Millionenstadt. Für viele ist Mumbai ein Ort der Träume und Zuversicht. Auf den überfüllten Straßen wird getanzt, in den Slums ist es eng. Aller Sorge zum Trotz lassen die Menschen ihre Fantasie spielen; sie vergessen die Armut, das Leid und am liebsten
sich selbst.

Kapadia hat mit All We Imagine as Light einen Nerv getroffen. Seit sie im Mai bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, kommt die junge Regisseurin kaum noch zur Ruhe. Im Gespräch via Zoom aus dem südindischen Kerala, wo sie kurz Halt macht, um Luft zu holen, merkt man ihr von der Aufregung jedoch kaum etwas an. Kapadia nimmt sich Zeit für Erklärungen, für ihre Figuren, für sich selbst. Es ist diese tiefe innere Ruhe und Gelassenheit, die auch ihren berührenden Film in jeder Einstellung und jedem sparsam verwendeten Wort durchdringt.

Payal Kapadia © Ranabir Das

Frau Kapadia, Sie wurden 1986 in Mumbai geboren. Wie blicken Sie persönlich aus heutiger Sicht auf die Stadt?

Obwohl meine Familie aus Mumbai stammt, habe ich mich dort nie zuhause gefühlt, weil ich nicht dort aufgewachsen bin. Ich besuchte zunächst ein Internat in Andhra Pradesh, später studierte ich am Film and Television Institute of India in Pune. Erst als meine Freunde von der Filmhochschule nach Mumbai zogen, habe ich durch ihre Augen und Erfahrungen miterlebt, wie sich der Alltag dort anfühlt. Und obwohl ich mittlerweile selbst in Mumbai lebe, sehe mich bis heute als Außenseiterin. Aber das ist ein großes Privileg, weil ich die Stadt aus der Perspektive von jemanden betrachten kann, der nicht an sie gebunden ist, sondern eine abstrakte Verbindung zu diesem Ort pflegt.

Hat sich Ihre Sichtweise geändert, seit Sie den Film gedreht haben?

Das wäre zuviel gesagt, aber ich habe die Stadt mehr ins Herz geschlossen. Ich bin offener für ihre Fehler geworden. Mir ist bewusst, wie schwer es ist, dort zu überleben. Gleichzeitig bietet die Stadt viele Möglichkeiten und Arbeit, insbesondere für Frauen, die auf sich alleine gestellt sind. Im Vergleich zu anderen Teilen des Landes ist Mumbai in der Hinsicht viel liberaler. Das darf man nicht vergessen.

Ähnlich wie bereits in Ihrer Dokumentation A „Knight of Knowing Nothing“ spielt das Thema Trennung auch diesmal eine wesentliche Rolle. Warum?

Sehnsucht ist ein faszinierendes Gefühl. Wenn jemand nicht da ist, projizieren wir die verschiedensten Dinge in diese Abwesenheit hinein, um die Leere zu füllen. Für mich hat das auch viel mit den Schwierigkeiten zu tun, die wir in Indien mit der Liebe haben. Darüber habe ich viel nachgedacht, und All We Imagine as Light ist das Ergebnis dieser Überlegungen. Es ist ein Film über die Freundschaft dreier Frauen, die einander Halt geben, weil ihnen sonst nicht viel bleibt …

Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 78

 

All We Imagine as Light
Drama, Frankreich/Indien/Niederlande/Luxemburg 2024
Regie, Drehbuch: Payal Kapadia; Kamera: Ranabir Das; Schnitt: Clément Pinteaux; Musik: Dhrituiman Das; Production Design: Piyusha Chalke; Kostüm: Maxima Basu
Mit: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon, Azees Nedumangad, Anand Sami
Verleih: Polyfilm, 114 Min.
Kinostart: 20. Dezember 2024

 

| FAQ 78 | | Text: Pamela Jahn
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