Leben und Werk von Johnny Cash sind ein Mythos. Viele Bilder des „Man in Black“ – etwa mit ausgestrecktem Mittelfinger oder als alter Mann – werden losgelöst von den Songs als Symbole des persönlichen Widerstands und Triumphs noch lange Zeit in der kollektiven Erinnerung verankert bleiben. Unzählige Geschichten über Exzesse oder Konflikte mit der Polizei wurden zu modernen Legenden, zu denen auch Cash beigetragen hat, denn er war der Erste, der eine gute Geschichte der Wahrheit vorgezogen hat. Robert Hilburn hat sich vorgenommen, dieses Leben zu erzählen. Dem langjährigen Musikchef der „Los Angeles Times“ war dabei klar, dass er tief graben musste, um das Leben von den Geschichten zu trennen. Er konnte aber dank seiner Reputation auf die Unterstützung von Cashs Familie und Freunden zählen, und so war es möglich, dieses durch und durch amerikanische Leben mit all seinen Widersprüchen, Niederlagen und künstlerischen Triumphen in ein Buch fassen.
Das Leben von Johnny Cash zu erzählen, ohne den frühen und tragischen Tod des Bruders in den Mittelpunkt der Kindheit zu stellen, ist wohl nicht möglich. Hilburn erzählt zwar von dieser prägenden Phase, begeht aber nicht den Fehler, Deutungen vorzunehmen. Dass dies ausschließlich dem Leser vorbehalten bleibt, ist dem Autor hoch anzurechnen. Wenn Cash am Höhepunkt seines Erfolgs neben den endlosen Konzertreisen und Plattenaufnahmen auch noch die erfolgreichste TV-Show der USA moderiert, dort sämtliche Künstler von Bob Dylan abwärts vorstellt und immer auch mit ihnen singt, dann stellt Hilburn diesem Erfolg nüchtern den Medikamentenkonsum gegenüber, der anscheinend notwendig war, um diese grausam erfüllten Arbeitsjahre durchzustehen. Als Leser hofft man beinahe, dass der Erfolg nachlässt, damit Cash endlich einmal verschnaufen kann.
Als Journalist ist es Hilburn natürlich auch ein Vergnügen, Geschichten als solche zu entlarven und die Wahrheit ans Licht zu bringen. So fand June Carter ihren späteren Mann nicht im Drogenkoma in einer Höhle, und Cash hatte auch nicht die göttliche Eingebung, mit den Drogen aufzuhören, als er ihr Gesicht sah. Die Höhle war zur angegebenen Zeit nämlich überschwemmt und den Drogen war er noch längere Zeit verfallen. Dazu rückt Hilburn auch das Bild der Ehe von June Carter und Johnny Cash gerade, denn sie war nicht das Idyll, als das sie nach außen hin verkauft wurde. Im Alter wurden die beiden aber wirklich unzertrennlich, und der überraschende Tod von Carter trug wesentlich zum Tod des kranken, aber immer noch neugierigen ewig Suchenden bei. Robert Hilburn ist es gelungen, ein langes, von Höhen und Tiefen geprägtes Leben als das darzustellen, was es schlussendlich auch war: Die Suche einer verwundeten Seele nach Erlösung durch Liebe und Kunst. Und wer hinter die Kulissen von „Big River“, „Cry, Cry Cry“ oder „Hurt“ schauen will, der ist hier goldrichtig.
Robert Hilburn: Johnny Cash. Die Biografie
Berlin Verlag, Berlin 2016.
832 Seiten, € 35