Robin Campillo sucht nach Worten. Übermüdet sei er und deshalb übermannt von den eigenen Emotionen. Sagt’s und zieht ein Taschentuch aus dem Ärmel, ohne das Gespräch auch nur für eine Sekunde zu unterbrechen. Immerhin geht es um sein neuestes Werk, in dem nicht nur viel Herzblut steckt, sondern vor allem allerhand Persönliches und nicht selten Tragisches. Trotzdem ist 120 BPM (120 Battements Par Minute) – Frankreichs offizieller Oscarbeitrag 2018 – längst kein Trauerspiel, sondern ein Film, der noch in den aussichtlosesten Momenten das Leben bejaht. Zügellos, leidenschaftlich, ohne Wenn und Aber.
Tatsächlich blickt Campillo, der sich hierzulande bisher vor allem als Co-Autor von Laurent Cantets Entre les murs (Die Klasse) einen Namen machte, in seinem dritten Spielfilm zurück in die eigene Vergangenheit und legt damit den Finger in eine bis heute schmerzliche Wunde. Genauer gesagt handelt es sich bei 120 BPM um ein Porträt der Pariser Anhänger von Act Up, einer internationalen Initiative von größtenteils homosexuellen und nicht selten HIV-positiven Aktivisten, die in den neunziger Jahren mit zum Teil spektakulären Auftritten in der Öffentlichkeit dafür kämpfte, Regierung und Pharmakonzerne dazu zu bewegen, einen angemessenen Umgang mit der unaufhaltsamen AIDS-Epidemie zu finden. Campillo, der selbst jahrelang Mitglied der Organisation war, beobachtet in seinem Film mit beeindruckender Präzision die Vorgehensweise, die heftigen Diskussionen und konsequenten Aktionen der Gruppe, in der sich Meinungsverschiedenheiten und Rivalitäten genauso offenbaren wie ein unzerstörbares Gemeinschaftsgefühl, das Individualität und Verschiedenheit achtet – und dennoch ein kollektives Ziel verfolgt.
Über seine soziale und politische Dimension hinaus ist 120 BPM jedoch auch ein unverhofft ergreifender, mitunter herzzerreißender Beweis dafür, dass die Liebe weder Grenzen noch Kompromisse kennt, ganz gleich wie hoffnungslos die Situation am Ende sein mag. Was das bedeutet, bekommen in diesem Fall vor allem Nathan (Arnaud Valois) und Sean (Nahuel Pérez Biscayart) zu spüren, die sich über Act Up kennen und lieben lernen, als bei Sean das Virus längst ausgebrochen ist. Es sind vor allem die intimen Momente zwischen den beiden und um sie herum, die Campillos Film so besonders machen. Selten hat ein Drama mit so wenig narrativem Engagement eine derart große emotionale Wirkung erzielt und damit nicht nur das Lebensgefühl einer ganzen Generation wiederbelebt, sondern auch seinen Platz im Hier und Jetzt bestätigt. Der Kampf gegen AIDS und für Aufklärung ist bis heute nicht gewonnen und geht uns auch morgen noch alle an.
Herr Campillo, Sie waren in den neunziger Jahren selbst als Mitglied von Act Up aktiv. Was hat Sie so lange davon abgehalten, einen Film über ihre Erfahrungen aus dieser Zeit zu machen?
Es stimmt, ich habe eine ganze Weile gebraucht, aber vielleicht lässt es sich am einfachsten so erklären: Es gibt zwei große Konstanten in meinem Leben – die AIDS-Krise und das Kino. Und es brauchte unendlich lange, bis sich die beiden Dinge für mich vereinen ließen. Der rasante Ausbruch der Epidemie hatte damals eine extrem starke Wirkung auf mich. Eine Zeit lang hatte ich solche Angst, dass ich sogar das Filmemachen aufgab. Ich habe einfach alles verdrängt. Irgendwann kam mir der Gedanke, einen Film über die Epidemie zu machen, aber meine Angst war immer noch zu präsent. Erst sieben oder acht Jahre nach meinem Beitritt zu Act Up wurde mir schließlich bewusst, dass ich etwas darüber erzählen wollte und konnte, was direkt vor meiner Nase lag: meine Zeit in der Gruppe.
Warum ging es nur so?
Weil die Art und Weise, wie ich die Epidemie zuvor erlebt hatte, mich in jeder Hinsicht gelähmt hat, im Denken wie im Handeln. Und Act Up hat uns die Kraft gegeben, wieder selbst über unser Leben zu bestimmen, wenn Sie wissen, was ich meine. Es hat dann zwar noch mal eine ganze Weile gedauert, bis daraus ein Film wurde. Aber das lag vor allem daran, dass ich der Sache unbedingt gerecht werden wollte. Ich hatte große Bedenken, all die ehemaligen Aktivisten zu enttäuschen, die ich während meiner Zeit bei Act Up kennengelernt hatte. Eines Tages meinte mein Produzent jedoch zu mir: „Du musst den Sprung jetzt wagen, sonst tust Du es nie.“ Also habe ich es getan.
Haben Sie das Gefühl, dass das Timing angesichts der allgemeinen politischen Lage gerade vielleicht sogar eine größere Rolle spielt, als Ihnen zunächst bewusst war?
Damals haben wir immer darüber nachgedacht, was passiert, wenn unsere Erinnerungen einfach verschwinden. Davor hatten wir die größte Angst. Selbst im Augenblick, einfach weil um uns herum permanent Leute starben, Freunde von uns gingen. Mehr und mehr Menschen starben und wir befürchteten, dass dieser Moment, der so wichtig für uns war, einfach in Vergessenheit geraten würde. Es hat also weniger mit der aktuellen politischen Situation in Frankreich oder sonst wo zu tun, sondern eher konkret damit, wie schwer der Kampf damals für uns war. Mit anderen Worten: Es geht mir nicht darum, einen neuen Aufstand anzuzetteln. Was ich zeigen will, ist, was es bedeutet, wenn man selbst körperlich betroffen ist, ähnlich wie die Frauen, die für das Abtreibungsrecht auf die Straße gehen. Wenn es um einen selbst geht, bekommt politisches Engagement noch einmal eine andere Dimension, und davon erzählt mein Film. Nicht um zu belehren, sondern lediglich um zu zeigen, wie das damals war für uns, in dem Moment, zu der Zeit …
Vollständiger Artikel in der Printausgabe.
120 BPM / 120 BATTEMENTS PAR MINUTE
Drama, Frankreich 2017 – Regie Robin Campillo
Drehbuch Robin Campillo, Philippe Mangeot Kamera Jeanne Lapoirie
Schnitt R. Campillo, A. Roth, S. Leger Musik Arnaud Rebotini
Mit Adèle Haenel, Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois,
Antoine Reinartz, Félix Maritaud, Médhi Touré, Aloïse Sauvage
Verleih Thimfilm, 140 Minuten
Kinostart 4. Jänner 2018