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Blätter aus dem Buch der Bilder

Text: Bert Rebhandl | Fotos: Viennale
Le livre d’image, Jean-Luc Godard, CH 2018 © Casa Azul Films/Ecran Noir

Der Dokumentarfilm Eine eiserne Kassette von Nils Olger beginnt, wie es der Titel schon ankündigt, mit einer eisernen Kassette. Sie enthält fotografische Negative, die der Großvater des Künstlers und Filmemachers im Zweiten Weltkrieg gemacht hat. 1944 war er in Italien, als Sanitäter bei der SS, die auf ihrem Rückzug vor den Amerikanern immer wieder Massaker an der Zivilbevölkerung verübte. Nils Olger begab sich für seinen Film auf die Spuren des Großvaters, er geht in die Dörfer, in denen zum Teil noch dieselben Häuser stehen wie damals, er nimmt die fotografische Perspektive von damals ein, stellt aber die Fragen von heute. In einem der Gespräche mit einem Zeitzeugen fällt ein Name, der bei dieser Viennale einen besonderen Klang haben wird: Sangiorgi.

Eva_Sangiorgi.pngEva Sangiorgi © Viennale, Roland Ferrigato

Es ist dabei nicht von Belang, ob die Sangiorgis in Nils Olgers Film in irgendeiner Weise in einer auch nur entfernten Verbindung mit der neuen Direktorin der Viennale stehen: Eva Sangiorgi stammt aus der Gegend von Ravenna, kommt also aus einer Gegend weiter östlich als die, in der Olger unterwegs war. Eine eiserne Kassette hätte wohl auch so einen Platz im Programm der diesjährigen Viennale verdient, und doch ist das ein Film, der der neuen Direktorin ein wenig näher stehen wird als die vielen anderen, die sie zeigt. Denn er steht eben für einen Aspekt der vielschichtigen historischen Verbindungen zwischen Italien und Österreich. Zu diesen Verbindungen gehört nun eben auch, dass eine Weltbürgerin aus der oberitalienischen Provinz das Filmfestival in der österreichischen Hauptstadt leitet. Sie ist die Nachfolgerin des vor einem Jahr unerwartet verstorbenen Hans Hurch. 2018 wäre seine letzte Viennale geworden. Bei einem Blick auf das Programm könnte man zugespitzt sagen: Eva Sangiorgi hat ein Festival kuratiert, das durchaus noch viel vom Geist ihres Vorgängers verspüren lässt.

So hätte man sich Lazzaro felice von Alice Rohrwacher (siehe FAQ49/Seite 64) in jedem Fall als Eröffnungsfilm vorstellen können – mit einer italienischen Direktorin bekommt die Wahl aber noch einmal eine spezifische Note, und man geht vermutlich nicht fehl, wenn man in der politischen Ästhetik dieses Films auch eine Richtschnur für das sieht, was Eva Sangiorgi am Kino interessiert. Sie kann bei ihrer allgemeinen Auswahl aus dem Vollen einer Jahresproduktion mit vielen Höhepunkten schöpfen. Etablierte Künstler wie Nuri Bilge Ceylan aus der Türkei (mit Ahlat Agaci, einem berührenden Generationendrama) oder Jafar Panahi aus dem Iran (mit Se rokh, einer brillanten Reflexion auf Starwirkung und gesellschaftliche Hemmungen) sind mit reifen Meisterwerken vertreten. Dazu kommt mit Le livre d’image von Jean-Luc Godard ein alles überragender Filmessay, der allein für ein ganzes Festival reichte, wenn man sich mit seinen überreichen Bezugswelten beschäftigen würde. Der chinesische Dokumentarist Wang Bing hat mit dem riesigen Dead Souls ein Werk über die Kulturrevolution geschaffen, das manche schon mit Shoah verglichen haben. Godard und Wang Bing könnte man als die beiden Leuchtürme bezeichnen, um die sich alles andere gruppiert, was auf der Viennale 2018 zu sehen sein wird.

Das europäische Großthema der Integration von heterogenen Gesellschaften taucht an vielen Stellen auf, zum Beispiel in Claire Simons Dokumentarfilm Premieres Solitudes, in dem eine Klasse französischer Jugendlicher aus einer Kleinstadt unweit von Paris sich ganz großartig persönlich kennenlernen lässt. Man sieht hier, dass eine sogenannte multikulturelle Gesellschaft ganz selbstverständlich sein kann, denn sie drückt im Grunde ja nur aus, dass ein Land sich nicht von der Welt isolieren will (oder kann). Die Viennale, die als Weltkinofestival schon immer für Freiheit in Krähwinkel stand (um Nestroys berühmte Provinzposse zu bemühen), ist im Grunde vom Prinzip her ein Festival vor allem gegen die geistige Abschottung. Und mit einer italienischen Nachfolgerin für den weltfrommen Katholiken Hurch bekommt das Grundfaktum einer globalen Filmauswahl noch einmal ein paar eigene Akzente.

Das zeigt sich vor allem an dem umfangreichsten der angekündigten Spezialprogramme: In Visual Justice kommen deutlicher denn je die politischen Aufgaben des Kinos zum Ausdruck. So hat zum Beispiel die Marokkanerin Mounir Fatmi mit Les ciseaux (2003) die zensurierten Liebesszenen aus dem Film einer Kollegin zu einem eigenen Film zusammenmontiert, mit dem sie einem wichtigen Aspekt „visuelle Gerechtigkeit“ verschuf – der freien Begegnung von Menschen in einer Gesellschaft, die dafür viel zu viele religiöse und andere Regeln festsetzt. Von Ken Jacobs bis zu Godard-Mitarbeiter Paul Grivas, von Raoul Peck bis zu der großen iranischen Rebellin Bani Koshnoudi reicht das Spektrum von Visual Justice

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VIENNALE 2018

25. Oktober bis 8. November

www.viennale.at

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