Lazzaro (Adriano Tardiolo) spricht nicht viel, lieber tut er, was man ihm sagt. Lazzaro hier, Lazzaro dort, heißt es von allen Seiten, doch der schmächtige junge Mann mit dem kindlich-staunenden Blick folgt den permanenten Anweisungen seiner Familie mit einer Engelsgeduld, die ihresgleichen sucht. Und auch sonst ist Lazzaro anders als alle anderen. Das gütige Lächeln auf seinen Lippen verrät, das er keiner Fliege etwas zu Leide tun kann. Der einfältige Tölpel, für den ihn auf dem abgeschiedenen Gutshof in der süditalienischen Provinz Inviolata alle halten, ist er deshalb jedoch noch lange nicht. Vielmehr scheint ihm eine sonderbare Kraft innezuwohnen, die herrschende Ungerechtigkeit und Ausbeutung auf Erden nicht nur zu ertragen, sondern sie fortwährend zu überdauern, komme, was da wolle – und zwar selbst dann noch, wenn ihm der Tod eigentlich sicher ist.
Ähnlich wie in ihrem Regiedebüt, dem aufwühlenden Pubertätsdrama Corpo celeste, rückt Alice Rohrwacher in Lazzaro felice erneut eine sensible Hauptfigur in den Mittelpunkt des Geschehens, die sich im Rahmen einer bewusst offen gestalteten Dramaturgie bewegt und darum bemüht ist, der Wucht ihrer gewaltigen Verlorenheit im Hier und Jetzt zu entgehen. Doch mehr noch als in ihren bisherigen beeindruckenden Arbeiten zeigt sich die italienische Regisseurin in ihrem dritten Spielfilm in erster Linie einem magischen Realismus verpflichtet, der sich selbst über Wunder, Fantasie und Zeitsprünge hinwegsetzt, ohne auch nur für den Bruchteil eines Augenaufschlags an Glaubhaftigkeit zu verlieren. Die elegante Vermischung zweier konträrer Gesellschaftsformen – einer längst vergangen geglaubten mit der unsrigen modernen Welt – gehört dabei ebenso so zu den eigenwilligen Stärken des Films wie die sanfte, unaufdringliche Art, mit der die heute 36-jährige Autorenfilmerin alle ihre Geschichten inszeniert. Ihr stets mit präziser Genauigkeit beobachtender Blick unterstreicht diesmal vor allem im ersten Teil des Films ihren ausgeprägten Sinn fürs Fantastische, ohne dass er jemals die Oberhand zu gewinnen versucht. Erst nachdem die Leibeigenen aus der Knechtschaft befreit und folglich an die soziale Randzone der Großstadt geschwemmt werden, zieht sich das Kameraauge etwas enger zusammen, um aus der Perspektive von Lazzaro und dem, was von seiner Familie nach dem Bruch mit dem bäuerlichen Leben übrig blieb, von den bitteren Wahrheiten des ökonomischen Wandels zu erzählen. War Rohrwachers Vorgängerfilm Le meraviglie noch ein zeitloses, oftmals humorvolles Porträt vom alternativen Leben in Italien, fällt Lazzaro felice bei aller Märchenhaftigkeit und Magie in seiner Wirkung umso bestürzender aus.
Frau Rohrwacher, Ihr Film steckt voller mythologischer Referenzen. Das fängt schon bei der Namensgebung der Figuren an. Was hat es damit auf sich?
Ich stamme aus einem von Mythen und Legenden stark beeinflussten Land und ich denke, es ist ein Teil unsere Identität – oder zumindest meiner Identität. Wir Italiener leben in einer Mischung aus Realität und Mythologie, und die Grenzen sind oftmals fließend. In unserem Land werden die kleinsten Fakten nicht selten zu Legenden und die größten Abenteuer zu Märchen. Was konkret die Namen der Figuren angeht, lege ich Wert darauf, dass sie einen gewissen Bezug zu mir, zu meiner Persönlichkeit haben. Oftmals handelt es sich dabei um literarische Referenzen, wie Gelsomina in Le meraviglie oder Lazzaro hier. Namen sind meine Glücksfälle. Aber sie nehmen auch jeweils Bezug auf die Welt, aus der sie stammen. Sie spiegeln einen gewissen Hintergrund wieder, ohne zu viel vorweg zu nehmen, und das ist mir sehr wichtig. Im Grunde kommt es der Geburt eines Kindes gleich. Da macht man es doch auch so. Keiner würde auf die Idee kommen, seinem Kind einen Namen zu geben, den man nicht mag. Und für mich ist dabei eben immer auch ein Stück Mythos und Realität im Spiel. Es ist mein Erkennungsmerkmal – und das meiner Heimat.
Sie drehen Spielfilme, dennoch wohnt Ihrem Blick immer auch eine gewisse dokumentarische Qualität inne. Ist das eine bewusste Vorgehensweise?
Es war immer mein Traum, Dokumentationen zu drehen, aber ich traue mich nicht. Ich hadere zu sehr mit mir selbst. Ich könnte niemals Menschen in ihrem wirklichen Leben filmen und sie damit gewissermaßen ans Kreuz schlagen. Dagegen erscheint mir die Vorstellung, jemandem die wundervolle Möglichkeit zu geben, sein eigenes Leben hinter dem einer fiktiven Gestalt zu verstecken, als eine reizvolle Alternative …
Vollständiger Artikel in der Printausgabe.
LAZZARO FELICE / GLÜCKLICH WIE LAZZARO
Drama Italien/Schweiz/Frankreich/Deutschland, 2018
Regie/Drehbuch Alice Rohrwacher Kamera Hélène Louvart
Schnitt Nelly Quettier Production Design Emita Frigato
Musik Piero Crucitti Kostüm Loredana Buscemi
Mit Adriano Tardiolo, Agnese Graziani, Alba Rohrwacher,
Luca Chikovani, Tommaso Ragno
Verleih Filmladen, 130 Minuten