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Der große Schwindel

Text: Oliver Stangl | Fotos: mumok
Photo: Lauren Glazer © Marina Apollonio

Lange galt sie als oberflächlich, effekthascherisch und zu verspielt: die Op-Art. Ab den späten fünfziger Jahren bis hinein in die frühen Siebziger waren Elemente der optischen Kunst in Ausstellungen zu sehen, kamen in psychedelischen Filmen vor und inspirierten gar die Einrichtung so manch hippen Clubs. Danach wollte man allerdings länger nichts mehr von ihr wissen. Doch nun ist es an der Zeit für eine Re-Evaluierung, ja Rehabilitierung. Die im mumok noch bis 26. Oktober zu sehende Ausstellung „Vertigo – Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520–1970“ (eine Kooperation mit dem Kunstmuseum Stuttgart) legt zumindest nahe, dass diese Kunstrichtung bei weitem nicht so oberflächlich ist wie ihr Ruf, sondern als Auseinandersetzung mit den Sinnen und deren Täuschung gesehen werden kann. Der Titel wurde dabei von Hitchcocks Meisterwerk Vertigo (1958), nach Ansicht vieler Kritiker der beste Film aller Zeiten, inspiriert. Der von James Stewart dargestellte Ex-Polizist Scottie verliebt sich darin in eine Frau, die er observieren soll, kann ihren Tod aufgrund seiner Höhenangst jedoch nicht verhindern. Als er eine andere Frau trifft, die der Toten zum Verwechseln ähnlich sieht, beginnt er, sie nach seinen Vorstellungen zu modellieren. Das psychologisch vielschichtige Werk dreht sich – im wahrsten Sinn – um Obsession und Täuschung. Das Motiv des Schwindels – in der deutschen Übersetzung bekommt dieser medizinische Begriff eine Doppelbedeutung –, wird bereits im von Saul Bass entworfenen Vorspann aufgegriffen, wenn sich eine Spirale in einem Auge dreht. Auch das Fallen von Körpern wird im Film in einer drehenden Bewegung gezeigt.

Der Schwindel kann einen auch beim vielleicht größten Eyecatcher der „Vertigo“-Ausstellung packen, ein betretbares Kunstwerk in Form schwarzweißer, konzentrischer Kreise: Marina Apollonios „Spazio Ad Attivazione Cinetica 6B 1966–2015“ wird von Ausstellungsbesuchern gern als Fotomotiv genutzt und zeigt den Grenzgang zwischen Dekorativität und der unmittelbaren körperlichen Wirkung der Op-Art. Spaziert man durch die Räume, erhält das Gehirn immer wieder Informationen, die Sehgewohnheiten strapazieren und das Auge fordern, sei es in den radikalen Karomustern eines Lev Nussberg (Untitled, 1962) oder Bridget Rileys „Cataract 2“, ein buntes Wellenmuster, das dem Zusammenhang von Farbe und Instabilität nachgeht.

Ein Verdienst der Ausstellung ist, wie in ihrem Titel schon angedeutet, auch das Herstellen eines historischen Kontexts, der Verweis auf Vorläufer, etwa Parmigianinos „Selbstbildnis im Konvexspiegel“ (1524), das hier als Replik vor Ort ist oder anamorphotische Werke wie Erhard Schöns Vexierbild „Buhlszene“ (um 1538). Wurde letzteres Werk zur „verschlüsselten“ Darstellung obszöner Vorgänge verwendet, erfüllte das aus dem Unkreis Guido Renis stammende „Riefelbild mit Porträts von Maria und Jesus“, von dem heute noch zahlreiche Plastikkopien in Billigshops verkauft werden, eine Andachtsfunktion. Manchmal wird man von der Modernität mancher historischer Werke überrascht, etwa von Claude Mellans „Christuskopf auf dem Schweißtuch der heiligen Veronika“ (1649), das mittels Spiraltechnik ein Christusportät entstehen lässt.

Interaktion wird in der Ausstellung großgeschrieben, beispielsweise mit der von Bryon Gysin in den sechziger Jahren entwickelten Dream Machine, die mittels stroboskopischer Effekte das Gehirn zur Bildung von Mustern anregt. Das Resultat ist allerdings kein ungezügelter Drogentrip, vielmehr sorgt die Leuchte für ein angenehmes Gefühl von Entspannung. Licht als Mittel von Überrumpelung und Täuschung findet man, ebenso wie allerlei strombetriebene Vorrichtungen, noch häufiger in „Vertigo“.

Sinnlichkeit und Wahrnehmung: zwei der Eckpfeiler dieser unbedingt empfehlenswerten Ausstellung.

www.mumok.at

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