Martin Nguyens Eltern waren vietnamesische Boat People, er selbst wurde auf einer überfüllten malaysischen Flüchtlingsinsel geboren. Kurz danach wurde die junge Familie im niederösterreichischen Furth im Triestingtal aufgenommen. Sein Vater Quang bekam Arbeit in der Landwirtschaft, seine Mutter zog drei Kinder auf, bevor sie Anfang der Neunziger Jahre in Wien einen Job in der Bekleidungsindustrie fand und nur mehr am Wochenende nach Hause pendelte. Der Film spürt in ruhigen Bildern dieser dramatischen Geschichte einer Flucht, des Ankommens und Wurzelnschlagens nach, immer ganz nahe vor allem beim Vater, der im breitesten Dialekt mit seinen Kollegen über Fußball, die Arbeitskraft von Frauen oder das Wachstum der Pflanzen redet. Im zweiten Teil begeben sich Vater, Mutter und Sohn auf die Suche nach einem Mann, der ihnen in Malaysia nach der Ankunft aus Vietnam sehr geholfen hatte. Über dreißig Jahre lang hatten sie kein Lebenszeichen ihres Wohltäters, weil Quang seine Adresse verloren hatte. Jetzt will er ihn wieder finden, um seine Dankbarkeit zu zeigen und vielleicht zu erfahren, warum dieser Ali gerade ihn aus Tausenden Flüchtlingen auswählte und ihn mit Geld und Wissen unterstütze.
Martin Nguyen bleibt bewusst auf der privaten Ebene und spart Verweise auf den aktuellen Umgang mit Flüchtlingen aus, aber aus dieser Geschichte einer spontanen Hilfe beim Anblick von menschlichem Elend wird klar, wie sehr sich die Reaktion der Medien und der Menschen auf Leute, die ein besseres Leben suchen, geändert hat. Natürlich geht es auch um Identität, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Kulturkreise, wenn Quang im niederösterreichischen Wald und in einem Felsen an der malaysischen Küste jeweils eine Pflanze findet, deren Wurzeln sogar in einem Felsen noch Nahrung findet. Der Film beweist, dass die oft bemühte Integration ganz beiläufig funktioniert, wenn sie nicht a priori gefordert wird, sondern Fremde ganz selbstverständlich als Teil der Gemeinschaft begriffen werden.
Warum sind manche Leute geflüchtet und andere geblieben?
Meine Eltern waren die ersten, und sie sind auch die einzigen geblieben in ihrer Verwandtschaft, die weggegangen sind. Es war ohne finanzielle Mittel ein enormes Risiko: Es kursierten Geschichten von Piraten, die den Leuten die Finger abschneiden, weil sie die Ringe nicht vom Finger bekommen, dann war da die Gefahr, zu ertrinken, und die Ungewissheit, keine Ahnung zu haben, wo man landet. Das stört mich auch an der heutigen Diskussion, wenn Leute sagen, der Flüchtling hätte ja auch in seinem Land bleiben können. Was das aber heißt, seine Heimat, seine Familie und Freunde zu verlassen, ohne zu wissen, ob man jemals irgendwo ankommt, bedenken die Menschen nicht. Das ist wohl niemals eine leichtfertige Entscheidung, die man noch dazu in dem Wissen trifft, dass man wahrscheinlich nicht zurückkehren wird.
Wie sind die Flüchtlinge aufgenommen worden?
Diese Hilfsbereitschaft wäre heute so kaum vorstellbar. Ich habe noch nichts davon gehört, dass Deutschland ein Schiff ins Mittelmeer schickt, um die Flüchtlinge aus Libyen oder Tunesien aus Seenot zu retten und ihnen dann Asyl zu gewähren. Es spielt sicher eine Rolle, dass in Vietnam die Kommunisten an der Macht waren, aber es war auch generell die Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen, viel größer. Sie wurden noch nicht so sehr als Bedrohung gesehen wie heute. Der Grundton der medialen Berichterstattung war ein anderer. Die Betroffenheit war viel stärker, auch bei den Medien selbst. Heute hat man sich anscheinend schon daran gewöhnt, dass Menschen auf hoher See sterben, weil sie ein besseres Leben suchen.
Wie war das Leben auf der ursprünglich unbewohnten Insel vor der Küste Malaysias, auf der deine Eltern damals Aufnahme in einem improvisierten Lager gefunden haben?
Für viele war es nach Tagen der Ungewissheit und der Lebensgefahr auf hoher See so etwas wie ein Rettungsanker. Das ist für viele Vietnamesen eine sehr starke Erinnerung. Mein Vater wollte am Anfang – so wie fast alle – in die USA, dann hat er sich für Kanada eintragen wollen, als über die Lautsprecher eine Durchsage kam, dass Österreich bereit ist, eine Familie aufzunehmen. Nachdem ich gerade geboren worden war, wollten meine Eltern möglichst schnell weg von der Insel, weil das Leben dort gerade mit einem kleinen Kind nicht einfach war. Wenn sie allein gewesen wären, hätten sie wohl noch etwas gewartet. Wir wären nicht in Österreich gelandet, und wir beide würden jetzt nicht miteinander reden. Das war ein Zufall. Deswegen hat dieser Ort für meine Eltern auch eine besondere Bedeutung, weil so viele glückliche Fügungen oder Zufälle zusammen gekommen sind.
Wie ist es deinen Eltern dann in Österreich ergangen?
Das Spezielle an unserer Familie ist, dass sie nicht in einer Stadt gelandet ist, sondern in ein Dorf mit 800 Einwohnern, eine Stunde von Wien entfernt. Meine Eltern stammen zwar auch aus einem Dorf, aber da lebten 20.000 Leute eng nebeneinander, auf der Insel genauso. Dann kamen sie in eine Gegend, wo es einen einzigen Nachbarn im Umkreis von Kilometern gibt. Meine Mutter sagt es im Film, sie hat geweint am Anfang, so fremd war das für sie. Sie kannten die Sprache nicht, hatten keine Ahnung von der Kultur und kannten sich auch bei den ganz banalen Alltagsdingen wie Einkaufen gehen überhaupt nicht aus. Bald hat jeder gewusst, wo wir wohnen und was wir machen, dadurch gab es nie ein Problem zwischen den Einheimischen und uns. Die „Integration“ wurde nie gefordert, nur gefördert: Mein Vater bekam einen Arbeitsplatz, die Kinder gingen mit den Einheimischen zusammen in die Schule, so wurde unsere Eingliederung ein natürlicher Prozess. Mein Vater hat sich dann mit seinen Glashäusern, wo er seine asiatischen Kräuter und Gemüsesorten anpflanzt, auch immer mehr von dieser Natur erobert. Er hat eben dort Wurzeln geschlagen im wahrsten Sinne des Wortes.
In unserem kleinen Dorf habe ich nie irgendwelche Ressentiments gespürt uns Kindern gegenüber. Meine ersten negativen Erfahrungen machte ich, als ich in die nächstgrößere Stadt ins Gymnasium gekommen bin. Dort kannten mich die Leute nicht, und ich wurde wegen meines Aussehens beschimpft. Für mich begann die Identitätssuche erst in der Pubertät. Da glaubte ich, ich müsste mich entscheiden, wer oder was ich jetzt bin. Irgendwann bin ich zum Glück draufgekommen, dass ich mich gar nicht entscheiden muss, sondern aus beiden Kulturen das mir Entsprechende rauspicken kann. Eine Zeit lang habe ich mich auch gefragt: Darf ich das überhaupt, mich als Österreicher fühlen? Habe ich die Qualifikation schon dafür? Ich bin erzkatholisch erzogen worden, war Ministrant und alles, was dazu gehört. Vietnamesisch lesen und schreiben kann ich leider nicht. Aber ich entdecke die Sprache gerade wieder, weil ich versuche, mit meiner kleinen Tochter konsequent vietnamesisch zu reden. Wenn ich nicht weiß, was Giraffe oder Schildkröte heißt, rufe ich einfach meinen Vater an.
Woher stammt die Idee zu dem Film?
Zu Hause wurde nie über die Vergangenheit gesprochen. Es wurde immer in die Zukunft geschaut: arbeiten, sich was aufbauen, die Kinder sollen eine gute Bildung und Ausbildung bekommen. Aber eines Tages hat mein Vater dann in gelöster Stimmung am Abend doch einiges von diesem Ali erzählt, seinem Wohltäter auf der Insel. Da bin ich dann draufgekommen, dass es da ja noch viel mehr geben muss hinter der Geschichte meiner Eltern. Selber Vater zu werden spielte da auch mit hinein, dass man sich mehr für die Geschichte interessiert und anfängt, genauer nachzufragen.
Am Anfang des Filmens habe ich ihm sehr genau erklärt, was ich mache und warum ich das mache und ihm aufgetragen, sich einfach so „normal“ wie möglich zu verhalten und nichts extra für die Kamera zu tun. In der ersten Projektphase war auch eine wichtige Frage, ob man in einem mehr reflexiven Teil auf die Darstellung von Flüchtlingen in den Medien heute eingehen soll? Ich habe mich aber nach einer Weile bewusst dagegen entschieden, weil dieser Themenkomplex ein eigener, anderer Film geworden wäre. So habe ich mich entschieden, dass es ein Film über eine Familie wird, wobei meine Eltern natürlich schon für viele ähnliche Schicksale stehen.
Warum nimmt die Suche nach Ali im Film so viel Raum ein?
Es war wichtig, dass meine Eltern an diese Orte zurückgekehrt sind, und dieser Ali ist untrennbar mit dieser Zeit und diesem Ort verbunden. Mein Vater redet oft vom Glück, vom Schicksal und vom Zufall. Ohne Ali und dessen Hilfe wären wir heute vielleicht nicht dort, wo wir jetzt sind. Mein Vater hat sich oft Gedanken darüber gemacht, warum gerade er unter all diesen Tausenden Menschen von Ali angesprochen wurde. Ali hat ihn zwar nicht aus dem Wasser gezogen, aber er war der erste dort, der geholfen hat, er hat sozusagen einen Samen gepflanzt, der dann später gewachsen ist durch seine Anteilnahme und Hilfe.
Die Reise dorthin war für mich schon auch sehr emotional, es ist auch der Ort, an dem ich geboren wurde. Sich in Vietnam auf Spurensuche zu begeben war keine Option für den Film, weil mein Vater schon öfter dort war und es keine Frage mehr ist, wo er zu Hause ist. Es hält ihn mehr hier, als ihn dorthin zurücktreiben würde. Außerdem sind meine Eltern, glaube ich, schon zu sehr an die Annehmlichkeiten der westlichen Zivilisation gewöhnt: dass die Müllabfuhr den Mist wegbringt, dass man an jeder Ecke beim Billa einkaufen gehen kann, solche banalen Dinge. Meine Mutter jammert jetzt schon über die Hitze in Vietnam, damals war sie über die Kälte hier schockiert. Man gewöhnt sich an die Umstände. In meiner Identität bin ich – obwohl ich zur Gänze hier aufgewachsen bin – trotzdem noch gespalten. Man ist dort in Vietnam nicht fremd wegen seines Aussehens wie in Österreich, aber dafür redet man anders und hat eine andere Mentalität und Kultur als die Einheimischen. Hier ist es umgekehrt. Wenn ich auf der Straße mit Freunden im Dialekt rede und eine ältere Dame auf mich zukommt und mich fragt, wo ich so gut Deutsch gelernt habe, ist das einfach eine Irritation, obwohl sie es sicher nicht böse gemeint hat. Man wird immer wieder positiv oder negativ daran erinnert, dass man nicht der Norm entspricht. In Weltstädten wie Paris oder London ist das anders. Da gehört ein schwarzer Polizist oder ein Sikh mit Turban, der einen Bus fährt, einfach zum Stadtbild dazu, so dass man nicht mehr diese tradierten Klischeevorstellungen haben kann wie bei uns wie: Ein Schwarzer in der U-Bahn ist ein Drogendealer. Es bräuchte mehr positive Beispiele in der Öffentlichkeit.
Tomorrow You Will Leave
Dokumentarfilm, Österreich 2011 – Regie und Konzept: Martin Nguyen; Kamera: Leena Koppe, Martin Nguyen; Schnitt: Rosana Saavedra Santis Ton: Nils Kirchhoff, Atanas Tcholakov; Produktion: Raphael Barth, Arash T. Riahi (Golden Girls Filmproduktion); Produktionsleitung: Peter Janecek
Format: HD Cam, 90 Min.
Boat People
Mitte der Siebziger Jahre gewann das kommunistische Nordvietnam den Krieg. Im Laufe der nächsten zehn Jahre flüchteten 1,6 Millionen Menschen aus Südvietnam vorwiegend in überfüllten Booten über das Südchinesische Meer – aus Angst vor der Einberufung in die Armee, die in Kambodscha kämpfte, oder vor den zahlreichen Umerziehungslagern. 250.000 von ihnen ertranken oder wurden von Piraten getötet. Zu der Zeit herrschte in den Medien und auch in potenziellen Aufnahmeländern wie in den USA, in Australien oder Frankreich eine starke Bereitschaft, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen und auch etwas für die Flüchtlinge zu tun. In Deutschland wurde etwa ein eigenes Schiff losgeschickt, um den Menschen vor Ort zu helfen und sie dann auch im Land aufzunehmen. Auch in kleineren Ländern wie Österreich starteten einzelne Personen meist mit Hilfe der Kirche Rettungsaktionen und stellten den Ankommenden Arbeitsplätze und Wohnraum zur Verfügung.