Christa Karas, gelernte Buch- und Kunstshändlerin mit einer fanatischen Liebe zum Journalismus, begann 1970, im zarten Alter von 19 Jahren, als erste Frau in Österreich Kriminalreportagen zu schreiben, im Chronikressort der „Arbeiter-Zeitung“. Einer ihrer ersten Texte beschäftigte sich mit einem Totengräber im Waldviertel, der menschliche Knochen für 100 Schilling und ein Viertel Wein an Medizinstudenten verkaufte. Fünf Jahre später („es war genug“) wechselte sie in den Gerichtssaal; 1984 wurde sie Leiterin der „AZ“-Chronik. Seit 1985 schreibt sie für die „Wiener Zeitung“ und verlagerte ihren journalistischen Schwerpunkt zunehmend in Richtung Wissenschaft und Forschung. Dass die Arbeit in einem nicht gerade zart besaiteten Beruf tough macht, das sieht man Christa Karas nicht nur an, es lässt sich auch aus Vielem heraushören, was sie sagt. Nach vier Stunden sind die Interviewer und der Fotograf plattgewalzt von Namen, Zahlen, Daten und Fakten. Das Folgende kann daher bestenfalls ein Auszug aus den faszinierenden Erinnerungen einer außergewöhnlichen Frau sein.
Wie kam es, dass Sie so jung Journalistin und ausgerechnet Kriminalreporterin wurden?
Vielleicht liegt es daran, dass ich mit drei Mördern zur Schule gegangen bin. Einer meiner Klassenkameraden hat zwei kleine Mädchen umgebracht, einer meiner besten Freunde hat seinen Erzieher niedergestochen, und eine Frau, die ich aus der Schule kannte, hat später ihre Pflegekinder getötet. Nein, es war schon so, dass ich immer Journalistin werden wollte. Was mir geholfen hat, war, dass ich in eine Chronikredaktion mit 16 Genies kam, die alle etwas anderes machen wollten, nur nicht Chronik. Das war für mich die große Chance. Ich fand immer: Man kann sich nicht aussuchen, wohin man gestellt wird, aber man kann versuchen, das Beste daraus zu machen. Also begann ich am 1. Oktober 1970 als „fixe Freie“ bei der „AZ“ und tigerte mich voll hinein, von 7 bis 23 Uhr, so in etwa.
Man kennt diese Arbeit ja eigentlich nur aus dem Fernsehen und aus dem Film. Wie sah sie denn nun wirklich aus?
ich glaube, nicht einmal aus dem Fernsehen … Mir ist klar, dass es eine Generation gibt, die sich nicht vorstellen kann, wie es ist, ohne Handy, ohne Internet zu arbeiten. Es gab nur Telefon und Telefonzellen. Es war ziemlich unglamourös. Man muss aber sagen, es war ziemlich viel los damals, es gab spektakuläre Fälle und auch die ersten Terroranschläge. Wir waren eigentlich nur unterwegs. Im Vergleich dazu sind die Zeiten viel friedlicher und sicherer geworden.
Interessant, dass Sie das sagen. Es heißt doch immer, vor allem aus konservativen Kreisen, dass alles immer schlimmer wird, was die Kriminalität betrifft.
Das stimmt nicht. Schauen wir einmal: 1971 der Stein-Ausbruch. 1973 die 72 Stunden von Marchegg [palästinensische Geiselnehmer brachten drei sowjetisch jüdische Auswanderer und einen Zollwachebeamten in ihre Gewalt und erzwangen die Schließung des Transitlagers Schönau, Anm.], der Fall Sassak, der Amoklauf des Ernst Dostal, die Palmers-Entführung …
Stichwort Stein-Ausbruch: Sie waren ja dabei, als der legendäre Polizeipräsident Joschi Holaubek einen der drei Ausbrecher, Walter Schubirsch, mit den Worten „I bin’s, dei’ Präsident“ zur Aufgabe überredete?
Ja, mein Fotograf und ich hatten das Glück, eine Familie zu fi nden, die genau gegenüber dem observierten Objekt wohnte und uns in die Wohnung ließ. Ich telefonierte praktisch ständig mit der Redaktion. Da stürmte Holaubek in die Sze¬nerie und sagte: „Ich lass’ Sie verhaften, Sie begeben sich da in höchste Gefahr.“ Ich sagte: „Aber, Herr Präsident, sehen Sie nicht, dass der aufgeben will? Kümmern Sie sich nicht um mich.“ Schubirsch war im Besitz einer Waffe, die aus Justizeigentum stammte und wusste nicht, wie er die loswerden sollte. Alle riefen: „Lass’ sie fallen!“, aber das wollte er nicht, weil er Angst hatte, dass sie beschädigt wird und man daraus vielleicht noch einen weiteren Anklagepunkt macht. Das zu beobachten, war ziemlich banal und skurril.
Waren Sie die einzige Reporterin dort? Wo war das Fernsehen?
Es waren andere auch da, auch das Fernsehen, aber die waren alle weit außerhalb. Nur wir hatten das Glück, dass diese Familie uns reingelassen hatte. Es war ja die erste dieser Polizeiaktionen in Österreich, wie man sie heute zur Genüge kennt: mit langwierigen Verhandlungen, in die übrigens auch der hervorragende Psychiater Willibald Sluga eingebunden war.
Wie kann man sich das Verhältnis zwischen Polizei und Presse vorstellen, und wie sehr hat es sich in der Zwischenzeit verändert?
Es war immer so, dass man enge persönliche Kontakte brauchte, um wirklich wichtige Dinge zu erfahren. Es war ein Spagat: Einerseits musste man präsent sein, andererseits aber quasi unsichtbar, weil natürlich auch Polizisten, wenn sie sich unbeobachtet wähnen, viel offener über Dinge reden. Wichtig war vor allem der Kontakt zum Sicherheitsbüro, das damals wirklich eine hervorragende Behörde war. Ich halte es für katastrophal, dass man es später abgeschafft hat. Dort saßen wirklich gute, kultivierte und engagierte Leute, mit denen man auskommen konnte. Aber es gab auch andere, die eher fürs Grobe zuständig waren, klar. So wie der Herr Major Hammer.
Hammer hieß der? Guter Name.
Ja, der war ziemlich gefürchtet. Sein Spitzname war „der Hammer-Lange“, weil er auch noch so groß war. Der kam aber nur bei wichtigeren Fällen zum Einsatz, wenn es dann z. B. um ein Geständnis ging. Aber das waren alles gestandene Polizisten, deren Väter zum Teil schon bei der Polizei gewesen waren. Die Söhne hatten studiert und stiegen schon auf einem höheren Level ein. Jedenfalls: Man hatte sich an die Spielregeln zu halten, und das habe ich immer getan. Ich habe niemals vertrauliche Off-the-Records Informationen veröffentlicht. Hätte man einmal gegen diese Regel verstoßen, hätte man niemals mehr etwas erfahren. Das war quasi eine Symbiose, und das hat immer gut funktioniert. Einer meiner Kollegen hat einmal durch eine verfrühte Veröffentlichung die Aufklärung eines Mordes verhindert. Idiotisch. Für mich gibt es da eine Art Ehrenkodex: Keine Geschichte der Welt ist es wert, so etwas zu tun und die Ermittlungen zu sabotieren.
Wie empfanden Sie denn das Verhältnis zwischen Polizei und Unterwelt? Da gibt es ja viele Legenden darüber, wie gut sich die verstanden. Stimmt das?
Irgendwie ja. Viele kannten sich ja persönlich, das hatte fast etwas Familiäres. Was anders war als heute: Die Unterwelt blieb mehr oder weniger unter sich, der brave Bürger kam damit so gut wie nicht in Berührung. Die schossen sich höchstens untereinander an und nieder, und die Polizei konnte sich freudig die Hände reiben und sagen: „Fein, wieder etwas erledigt.“ Otto Kornek, der Leiter des Morddezernats, führte fast einen persönlichen Krieg gegen den „Roten Heinzi“ [Heinz Bachheimer, geb. 1939, Wiener „Unterweltkönig“ der Siebziger Jahre, Anm.], der einmal geschworen hatte, er werde ihn erschießen. Es ging nicht immer freundschaftlich zu, aber sehr persönlich. Klar: Um Informationen zu bekommen, musste man sich ins „Milieu“ begeben, die Polizei ebenso wie ich. Die Frage war: Wie gehe ich daraus hervor, ohne selber schmutzig zu werden?
Hatten Sie als junge Frau nicht mit Ressentiments und Widerständen zu kämpfen? Das war ja damals wohl kein „typischer“ Frauenberuf …
Das ist es auch heute noch nicht. Es war nicht immer leicht, aber man verschafft sich ja durch gute Arbeit auch Respekt. Es hatte auch seine Vorteile, muss ich ehrlich sagen. ich konnte mich sozusagen „ganz klein“ machen, sodass die Leute fast vergaßen, dass ich im Raum war, und erfuhr mehr als jeder Kollege.
Und bedroht gefühlt haben Sie sich nie? Gab es nie eine Situation, in der Sie Angst hatten?
Es gab eine Situation mit einem Betrüger, der irrtümlich meinte, ich sei Schuld daran, dass er seine Haft antreten musste. Der hat mich eine Zeit lang bedroht. Aber im Grunde: nein. Warum sollte einem auch jemand etwas tun – sieht man von schweren Psychopathen einmal ab, und das kann man sowieso nicht steuern.
Wo sehen Sie denn den Unterschied zu heute? Es scheint, als sei die „überschaubare“ Wiener Unterweltszene Vergangenheit?
Absolut. Sie können heute auch noch in die einschlägigen Lokale gehen, aber abgesehen davon, dass Sie vermutlich eine osteuropäische Sprache sprechen müssten – Sie würden wahrscheinlich sowieso nicht verstehen, was wo wie warum läuft. Damals war das anders, man wusste, wer ungefähr zu welcher Gruppierung gehört und wer welches „Ressort“ betreut – das gibt’s nicht mehr. Das Verbrechen war immer schon banal, aber früher war es unterhaltsamer, finde ich. Heute ist es nur noch brutal.
Einer der spektakulärsten Fälle der Zeit war der des siebenfachen Mörders Harald Sassak [geb. 1948, bekannt auch als „Gaskassier“, sitzt eine lebenslange Strafe ab, Anm.]. Wie erinnern Sie sich daran?
Das war 1971, 1972, ich war bei allen Leichen dabei. Später bin ich in den Gerichtssaal gewechselt. Es war sehr interessant für mich, wie sehr sich das, was bei der Polizei ermittelt wird, von dem unterscheidet, was sich dann vor Gericht abspielt. Genau genommen war Sassak kein Mörder. Er hat nie in Tötungsabsicht gehandelt. Es war ihm schlicht egal, ob die alten Leute, die er überfallen hat, sterben oder nicht. Mord setzt aber die Tötungsabsicht voraus. Er hat den Tod „billigend in Kauf genommen“, wie das so schön hieß. Das war und ist das Spannende an der Kriminalistik und an der Justiz.
Glauben Sie, dass sich der Kriminaljournalismus verändert hat? Der Druck, als Erster eine Meldung, ein Interview zu bringen, ist doch noch viel stärker geworden?
Den Druck gab es immer schon. Das hat sich so manifestiert, dass man der Witwe eines Mord¬opfers noch am selben Abend die letzten Fotos entrissen hat. Ich nicht, das habe ich nie übers Herz gebracht, aber da gab es Spezialisten unter den Kollegen, die sich nicht nur die Fotos des Ermordeten, sondern auch gleich sein Abend¬essen, das gerade auf dem Herd stand, gekrallt haben. Was es heute sicher nicht mehr gibt, ist, dass drei Leute von einer Zeitung losgeschickt werden, um über einen Raika-Überfall irgendwo in der Pampa zu berichten, so wie das damals bei uns üblich war.
Sie begannen zur Zeit der ersten SPÖ-Alleinregierung. Wie sehr hat Sie das geprägt?
Genau daran dachte ich, als ich für das Interview die alten Sachen wieder durchgeschaut habe. Ich glaube, ohne die damalige Regierung wären wir in einen Rechts-Rechts-Staat abgedriftet. Und ganz besonders ohne die Reformen des Justizministers Christian Broda. Allein, dass man jetzt den Jugendgerichtshof in Wien abgeschafft hat, dass man Jugendliche genauso behandelt wie erwachsene Schwerverbrecher, ist ein Rückfall um hundert Jahre hinter Broda. Seine Leistung wird heute viel zu wenig gewürdigt. Er hat Österreich erst zu einem modernen, menschlichen Staat gemacht, ich habe das miterlebt. Als ich 1974, 1975 in den Gerichtssaal kam, war ich fassungslos: Da ging es nicht anders zu, als es Kurt Tucholsky schon in den Zwanziger Jahren beschrieben hat. Und wenn ich mir die Justiz heute anschaue, dann habe ich das Gefühl, dass die Errungenschaften Brodas vergessen sind. Mir kommt es vor, als seien wir wieder in den Fünfziger Jahren angelangt.