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Aktualisierte Erinnerungen und Kino des Jetzt

Text: Jakob Dibold | Fotos: Viennale

Der Versuch eines Ausblicks auf die heurige Viennale, die am 21. Oktober im neu eröffneten Gartenbaukino eröffnet wird, führt quer durch die Welt des Filmemachens.

Anamaria Vartolomei in „L’Evénement“ (Happening). Regie: Audrey Diwan

Gut 240 Filme (Eigenaussage) in elf Tagen zu schauen, das schafft man nicht. Die Qual der Wahl zu erleichtern ist aber auch nicht einfach. Eine Vorschau vermag dies manchmal zu leisten, meist aus Vorfreude auf vorab Empfohlenes – doch auch dann, wenn die gewährte Aussicht nicht gefällt, lässt sich der eigene Festival-Fahrplan wenigstens durch Ausschlussverfahren limitieren. FAQ versucht im Folgenden, einige Höhepunkte vorzustellen und zu erahnen. Große und (noch) kleinere Namen, Langes und Kurzes sowie die facettenreichen Spezialprogramme.

Benedict Cumberbatch als Phil Burbank in „The Power Of The Dog“ © Kirsty Griffin, Courtesy of Netflix

Zuerst das Naheliegende. Die vierte Ausgabe unter der Direktion von Eva Sangiorgi wartet mit einigen Hochkarätern des zeitgenössischen Arthouse-Kinos auf. Das Festival eröffnen wird mit dem Abtreibungsdrama L’Evénement (R: Audrey Diwan) der frischgebackene französische Gewinner des Goldenen Löwen in Venedig. Diwans Landsfrau Céline Sciamma kehrt nach ihrem herausragenden Portrait de la jeune fille en feu (2019) mit Petite Maman zum Thema Kindheit und zur Viennale zurück. Auch Jane Campion begeht in ihrem neuem Western The Power of the Dog kein ihr gänzlich unbekanntes Terrain, sondern beweist einmal mehr ihr Gespür für die Zeichnung problematischer Männerfiguren. Jacques Audiard verleiht hingegen dem Genre der französischen Romanze mit Les Olympiades (Paris, 13th District; am Drehbuch schrieben wiederum Sciamma und Léa Mysius mit) eine neue Note. Sehr gespannt sein darf man auf Memoria, handelt es sich dabei doch um die erste englischsprachige, internationale Produktion von einem, dessen Filme die meisten lieben, die das Kino lieben: Apichatpong Weerasethakul. In der Hauptrolle glänzt keine Geringere als Tilda Swinton. Der indonesische Filmemacher Edwin hievte sich heuer ebenfalls in Arthouse-Höhen: Seine schräge Kreation Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas (Vengeance Is Mine, All Others Pay Cash) gewann unlängst den Goldenen Leoparden in Locarno. Ausgehend vom expressiven, von Sparks geschriebenen Filmmusical-Spektakel Annette von Leos Carax, lässt sich der Bogen zu „großen“ Highlights mit Bezug zu großen Real-Persönlichkeiten spannen: Die Sparks selbst portraitiert Edgar Wright ausführlich und faszinierend – The Sparks Brothers –, das erfahrene Kamera-Ass Ed Lachman lässt die beiden Musiklegenden John Cale und Lou Reed in neuer Restauration ihre Songs for Drella vortragen, Pablo Larraín tut das, was er am besten kann und widmet sich einer tragischen Polit-Figur: Nachdem er für Spencer auch noch die großartige, unaufhörlich wandelbare Kristen Stewart als Princess Diana gewinnen konnte, verspricht dieses Biopic umso mehr. Zu sehen ist auch Paul Schraders neue Regiearbeit, The Card Counter, in dessen Mittelpunkt der von Oscar Isaac verkörperte professionelle Spieler mit dem klingenden Namen William Tell steht.

„Memoria“ Regie: Apichatpong Weerasethakul

Kristen Stewart in „Spencer“. Regie: Pablo Larraín

John Cale und Lou Reed in „Songs for Drella“. Regie: Ed Lachman

Einem der größten Akteure der Filmgeschichte nähert sich Mia Hansen-Løve an. Bergman Island spielt auf der von Meister Ingmar für viele seiner Filme als Drehort genutzten Insel Fårö und entwickelt sich, wie könnte es anders sein, zum metaphysischen Beziehungsdrama. Eher Tragödie als Drama ist das (Zwischen-)Menschliche bei Joanna Hoggs The Souvenir (2019). The Souvenir II, nun endlich auch hierzulande zu sehen, knüpft direkt an Teil eins an und konztriert sich auf die Künstlerin als Frau. Die Viennale zeigt beide Teile. Zuletzt eine tierische Empfehlung: Nachdem letztes Jahr mit Gunda (R: Victor Kossakovsky) eine Sau zu den Stars des Festivals zählte, dürfen wir heuer Luma beobachten – Andrea Arnold, die schon mit Shia LeBeouf und Michael Fassbender gedreht hat, drehte ihren neuen Film mit einer Kuh. Berührend ohne Barmherzigkeit: Cow. Nie zu vergessen sind natürlich auch Viennale-Dauerbrenner wie Lav Diaz (History of Ha) und Hong Sangsoo (Introduction, In Front of Your Face).

„The Souvenir: Part II“ Regie: Joanna Hogg

Auch abseits der bekanntesten Namen bieten die „Features“ diverse Ausprägungen nicht minder spannenden Kinos. Neben etwa den neuen Filmen von Nadav Lapid (Ahed’s Knee) und Yuri Ancarani (Atlantide) finden sich darunter auch zahlreiche aufstrebende (noch) jüngere Stimmen. A Night of Knowing Nothing, der Debütfilm von Payal Kapadia, ist poetisch-dokumentarisches Anti-Bollywood, Jia ting lu xian (All About My Sisters) der in den USA lebenden chinesischen Filmemacherin Wang Qiong ist als generationenübergreifende Untersuchung der politischen Auswirkungen auf weibliches Familienleben ein nicht minder beeindruckendes langes Erstlingswerk. Theo Anthony legt nach Rat Film (2016) das nächste faszinierende Filmessay vor: All Light, Everywhere ist eine assoziative Reise durch Technologie und Wissenschaft. Wiederum ein aufregendes Debüt kommt von Alina Grigore, die sich mit Crai Nou (Blue Moon) schlagartig als eine neue starke Stimme des rumänischen Films etabliert. Vielen wohl eher aus der Bildenden Kunst bekannt sind Shirin Neshat (zumindest in Punkto Kinofilm als „junge“ Position zu zählen) und Amalia Ulman; die eine rechnet mit den USA ab – Land of Dreams (in einer Rolle: Isabella Rossellini) –, die andere erzählt von Leben in der wahnhaften Social-Media-Welt – El Planeta.

„All Light, Everywhere“ Regie: Theo Anthony

Franz Rogowski und Georg Friedrich in „Grosse Freiheit“. Regie: Sebastian Meise

Last not least finden sich natürlich viele „heimische“ Produktionen im Programm, die man nicht verpassen sollte. Allen voran Sebastian Meises Große Freiheit, der heuer u. a. schon den Jurypreis in Cannes’ „Un Certain Regard“-Sektion gewann. Besonders freuen sollte man sich ebenfalls auf die wundervolle 16mm-Studie Beatrix von Milena Czernovsky und Lilith Kraxner.

Auch die diesjährige Retrospektive hat Österreich-Bezug: Der große österreichisch-amerikanische Filmwissenschaftler Amos Vogel wäre heuer 100 Jaher alt geworden. Filmmuseum und Viennale luden sechs Filmexperten (Nicole Brenez, Go Hirasawa, Kim Knowles, Birgit Kohler, Roger Koza und Nour Ouayda) ein, Vogels Überzeugung von Film als subversiver Kunstform anhand von eigenen Programmen zeitgenössisch zu aktualisieren und zu befragen.

Mehr denn je, wie die Direktion betont, will man heuer auch Kurzfilmen eine Bühne geben. Dies geschieht in sechs vielfältigen Programmen und beinhaltet unter vielen, vielen anderen Filme von Friedl vom Gröller (Das Rad, 2020), Vika Kirchenbauer (The Capacity for Adequate Anger), Jan Soldat (Nullo), Apichatpong Weerasethakul (Night Colonies) oder Miranda Pennell (Strange Object).

„Of Time and the City“ Regie: Terence Davies

Die weiteren Sonderprogramme: Eine Monografie zeigt alle Filme von Terence Davies (darunter mit Benediction sein allerneuester), eine zweite Werke eines des, vor allem mit Drehbucharbeit, umtriebigsten Horror-Fantasten der Zwanziger Jahre, Henrik Galeen (z. B. Murnaus Nosferatu, 1922), die Kinematografie präsentiert das unkonventionelle Kino von Fabrizio Ferraro und in der Historiografie gibt es die seltene Möglichkeit, den letzten Film von Sara Gómez, der zugleich der erste einer kubanischen Frau ist – De Cierta Maniera (1974-77)–, sowie Arbeiten des spanischen Pioniers Segundo de Chomón zu erleben. Letzterer sorgt dafür, dass die heurige Viennale beinahe 120 Jahre Filmgeschichte umspannt. Lang lebe das Kino!

 

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Viennale – Vienna International Film Festival
21. bis 31. Oktober 2021
www.viennale.at

 

 

| | Text: Jakob Dibold | Fotos: Viennale
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