Theaterbegeisterte in Österreich haben noch wenige Wochen Zeit, in denen es nicht peinlich ist, dass ihnen der Name Alexander Zeldin nichts sagt. Ab dann wird der Shootingstar der Theaterszene dank der Wiener Festwochen sicherlich auch hierzulande in aller Munde sein – so das Gastspiel seines Werkes wie geplant stattfinden kann. Und dabei wurde der Autor und Regisseur nicht mit glitzernden Hochglanzproduktionen bekannt, nicht mit skandalträchtigen Klassikerneuschreibungen oder Starbesetzungen, sondern mit denkbar sperrigen Themen: Armut und soziale Ungleichheit.
Für ein neues sozialkritisches Theater
Diese Themen bewegen die Theaterszene schon lange. Von Gerhart Hauptmanns naturalistischen Stücken über Maxim Gorkis „Nachtasyl“ bis hin zu Werner Schwabs Dramen ist der Blick auf soziale Brennpunkte aus der Bühnengeschichte nicht wegzudenken. Doch wo die Literatur immer noch einen Fokus auf Herkunft und Klasse hat – etwa in den gefeierten Romanen Édouard Louis’ oder den Texten Didier Eribons – tut sich das Gegenwartstheater sichtbar schwer. Darf eine subventionierte, häufig elitäre Szene den Blick auf die sogenannte „Unterschicht“ richten, ohne zynisch zu wirken? Mit welchen Mitteln kann man sozial schlechter gestellte Gruppen auf die Bühne bringen, ohne dass es ein Gaffen wie im Trash-TV wird? Interessanterweise bezieht sich Alexander Zeldin mit seinen Werken auf einen Autor, der sich diesen Fragen ebenfalls stellte: Ödön von Horvath. Dessen Stück „Glaube, Liebe, Hoffnung“ über die junge Elisabeth, die ihren Körper aus Armut schon zu Lebzeiten an die Anatomie verkaufen muss, steht nicht zufällig Pate für Zeldins „Faith, Hope and Charity“. Das Werk ist Teil von „The Inequalities“. Unter diesem Übertitel fasst der aufstrebende britische Autor und Regisseur bei den Wiener Festwochen drei Stücke zusammen, die durch ihre Themen zwar miteinander kommunizieren, jedoch wunderbar auch als eigenständige, packende Theaterabende funktionieren. Doch Vorsicht: Wer eines gesehen hat, wird die anderen wahrscheinlich nicht versäumen wollen.
Unsichtbares sichtbar machen
In „Love“ verfolgen wir einige Personen in einer Einrichtung für temporäres Wohnen. In der Vorweihnachtszeit sind mehrere Familien gezwungen, auf engstem Raum miteinander zu leben: ein Mann mittleren Alters und seine Mutter, eine junge Familie mit einem Baby auf dem Weg und eine Frau aus dem Sudan. Welchen Weg der Koexistenz ohne Rückzugsorte finden diese so unterschiedlichen Menschen? In „Beyond Caring“ versetzt Alexander Zeldin uns in den provisorischen Pausenraum einer Fleischverarbeitungsfabrik, in der vier einander Unbekannte von einer Zeitarbeitsfirma als Reinigungskräfte eingesetzt werden. Im schon erwähnten „Faith, Hope and Charity“ schließlich ist die Bühne die Volksküche eines Nachbarschaftszentrums einer britischen Großstadt, in der Bedürftige mit warmen Mahlzeiten verfolgt werden. Mit dem aus Profis und Laien bestehenden Ensemble untersucht Zeldin in allen drei Stücken Fragen nach Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft in unserer Gesellschaft im Umbruch.
Eine umfangreiche Recherche stand dabei jeweils am Beginn der Arbeiten. Für „Faith, Hope and Charity“ dauerte allein diese Phase über zwei Jahre. Zeldin arbeitete mit Wohltätigkeitsorganisationen zusammen, mit Familiengerichten und Gemeindezentren. Über 60 Personen standen bereit, um dem Stück zu dem zu verhelfen, was in den letzten Jahren zu einem etwas abgenutzten Begriff im Theater wurde: Authentizität. Und doch ist es Zeldin wichtig, kein Dokumentartheater zu produzieren. Als Autor verwandelt er die Recherche in Kunst, in packende Theaterabende. „Theater gibt uns die Chance, das Leben so zu sehen, wie es wirklich ist“, sagte Zeldin einmal. „Es erlaubt uns, etwas Unsichtbares sichtbar zu machen. Ich möchte, dass etwas Echtes stattfindet, ein echtes Gefühl, ein echter Moment.“ Die Bühne ist für ihn ein Vergrößerungsglas, nicht zu vergleichen mit anderen Kunst- und Gesellschaftsformen. Auch den Begriff politisches Theater sieht er kritisch. „Es ist Theater“, war in einem Interview mit ihm zu lesen. „Ich denke, die Arbeit spricht für sich selbst. Ich will sie nicht auf irgendetwas reduzieren.“ Ein befreiender Ansatz in einer Szene, die zwischen abgehobener Kunst und trockenem Dokumentartheater oft keinen überzeugenden Weg findet.
Krise als Chance
Doch wo kommt dieser Shootingstar her, um den sich Festivals in ganz Europa reißen und der einmal als Ken Loach des Theaters bezeichnet wurde? Was hat sein sehr spezielles Verständnis von Theater geprägt? Noch vor zehn Jahren arbeitete der inzwischen 36-Jährige als Assistent für den Theaterguru Peter Brook, ein Einfluss, den man seinen den Menschen nahen, dem Spektakel abgeneigten Arbeiten ansieht. Er war in Russland tätig, am traditionsreichen Mariinsky Theater, war Protegé des berühmten Dirigenten Valery Gergiev. Doch die Welt der Oper war nicht einfach zu erobern, seine Mariinsky-Produktion von Wagners „Ring“ wurde in England gnadenlos ausgebuht. Zweifel drängten nach oben, ob es in der Branche wohl eine Zukunft für ihn gäbe. „Plötzlich musste ich mich fragen: Was will ich eigentlich machen und was bedeutet das Theater wirklich für mich? Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht weiterkomme.“ Vor diesem Hintergrund begann er, mit Studierenden einer Schauspielschule in Essex zu kooperieren.
Am Ende des fünfjährigen Arbeitsprozesses stand „Beyond Caring“ – der Prozess veränderte seine Arbeit. Bis heute bezieht Zeldin sein Ensemble eng in den Kreationsprozess ein, gestaltet gemeinschaftlich Werke, die ihre Kraft aus dem Menschlichen ziehen. „Ich glaube nicht, dass ein Kunstwerk irgendetwas erreichen kann“, hat er in einem Interview einmal gesagt. Die wirkliche Kraft liegt für ihn in dem, was sein Mentor Peter Brook den „leeren Raum“ genannt hat: „Wir haben es mit Menschen zu tun, die sich einen Raum teilen. Und mit allem, was daraus entstehen kann.“
Bleibt nur zu hoffen, dass seine Werke auch in Wien gemeinsam in einem Raum erlebt werden können. Schließlich sind die von Zeldin aufgeworfenen Fragen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt, nach Momenten der Krise, nach Menschlichkeit in ökonomisch brutalen Zeiten im Moment drängender denn je.
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