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Alles oder Nichts

Cate Blanchett spielt in Todd Fields zeitgemäßem Musikdrama „Tár“ eine weltberühmte Dirigentin, die an ihrer eigenen Genialität und Leidenschaft zerbricht. Für die australische Schauspielerin und ihr Publikum ist die Rolle ein großes Glück.

Noch nicht. Noch steht sie im Seitenflügel der Bühne und wartet auf ihren Auftritt. Ihr maßgeschneiderter Anzug sitzt perfekt. Der Blick ist cool, die Wangen schmal, der Rücken durchgedrückt. Sie wirkt angespannt, aber nervös ist sie nicht. Lydia Tár, die Titelfigur in Todd Fields neuem Film, weiß, worauf sie sich einlässt. Sie ist es gewohnt, im Rampenlicht zu stehen, es ist Teil des Geschäfts. Die Kamera bleibt in diesen ersten Bildern ganz nah bei ihr, mustert sie, prüft ihre Haltung, ihr Outfit, ihr Gesicht, während uns die Frau, die wir beobachten, als sie sonst niemand sieht, vom New Yorker Schriftsteller Adam Gopnik als „eine der größten lebenden Komponisten-Dirigenten und erste weibliche Chefdirigentin eines deutschen Orchesters“ vorgestellt wird. Kurze Zeit später bittet er sie unter tobendem Applaus auf die karge Bühne. Zwei Sessel, zwei Mikrofone, mehr braucht es nicht. Es ist die Präsenz von Tár, dieser magnetischen, anmaßenden, ja fast unverschämt charismatischen Frau, die den Raum füllt. Gopniks einleitende Worte hallen da noch nach. Und sie geben vor, mit wem wir es in den nächsten zweieinhalb Stunden zu tun haben werden – soviel ist sicher: Eine gewöhnliche Person ist es nicht.
Ihre ganze Vita klingt zu grandios, um wahr zu sein: Tár ist eine Maestra, die große Ausnahme im Musikbetrieb, die Leonard Bernstein als ihren Mentor bezeichnet und deren Karriere ein stetiger Aufstieg über die wichtigsten Orchester von Cleveland, Boston und New York bis zu ihrem derzeitigen Posten bei den Berliner Philharmonikern war. Jetzt hat sie den Traumjob, zwei Wohnungen, eine Familie und ein Leben, das ihr keine Pause gönnt. Ständig jettet sie um die Welt, ist sie auf dem Sprung, unterrichtet nebenbei an der renommierten Juilliard School, trifft sich mit Kollegen (oder besser: Rivalen) zum Lunch. Sie hat alle Mahler-Sinfonien aufgenommen, bis auf eine, die Fünfte, die demnächst erscheint, sowie „Tár on Tár“, ihre Autobiografie, die sicher ein Bestseller wird. „Time is the thing“, wird sie im Interview mit Gopnik einmal sagen. Und man ahnt, dass sie nicht nur ihr besonderes Taktgefühl für Musik meint, wenn sie von der Bedeutung des richtigen Zeitpunkts spricht.


Auch Cate Blanchett, die Schauspielerin, die hier einen Kraftakt vollbringt, um mit ihrer Figur Schritt zu halten, weiß, was es heißt, im entscheidenden Moment bereit und da zu sein. Ihr eigener Werdegang baut auf ein ähnliches Prinzip – und auf „viel Glück“, wie sie selbst sagt. „Ich war auf der Schauspielschule, hätte aber nie gedacht, dass ich überhaupt in der Lage bin, im Filmgeschäft zu bestehen. Als ich die Chance bekam, habe ich Blut geleckt.“ Allerdings war es nicht, wie es die Legende will, ihr Auftritt als Cheerleaderin in einem ägyptischen Boxfilm, der ihr Feuer fürs Kino entfachte.
Zwar lebte sie während eines Auslandsjahres tatsächlich in Ägypten, weil sie zu dieser Zeit plante, Museumskuratorin zu werden, aber wie sie einmal dem „Guardian“ erzählte, ging die Geschichte in Wirklichkeit so: „Ich wohnte also in dieser Bruchbude in Kairo, die wahrscheinlich schon längst abgebrannt ist, dem Oxford Hotel. Sie druckten Pässe und Geld im Foyer. Und dann kam dieser schottische Typ und sagte, dass sie englischsprachige Komparsen suchten und dass ich fünf ägyptische Pfund und eine Falafel bekommen würde. Zu der Zeit hatte ich nicht genug Geld, um mein Zimmer für die Woche zu bezahlen. Ich ging hin, und da war ein arabischer Typ mit einem Megafon, wie aus einem Stummfilm, und es war so heiß und so langweilig, dass ich gleich wieder ging.“ Zurück in Australien schrieb sie sich an der Schauspielschule ein, als eine Art Selbstversuch mit offenem Ausgang: „Die Schauspielerei war wie eine schreckliche Sucht geworden. Ich hatte das Gefühl, dass ich es fünf Jahre lang probieren sollte, um zu sehen, wohin es mich führt.“
Drei Dekaden später spielt die 1969 in Melbourne geborene Tochter einer Lehrerin und eines texanischen Werbefachmanns mit Militärvergangenheit in einer Liga mit der Künstlerin, die sie in Tár zu Beginn des Films verkörpert. Blanchett gibt den Takt und den Ton an in einer Filmwelt, die ihr zu Füßen liegt, seit sie 1998 in Shekhar Kapurs historischem Biopic Elizabeth der englischen Königin Rückgrat und Würde verlieh – und dafür gleich ihr erste Oscar-Nominierung als beste Schauspielerin erhielt. Kaum ein Jahr zuvor hatte sie in ihrer ersten internationalen Produktion, Paradise Road von Bruce Beresford, an der Seite von Glenn Close und Frances McDormand in einer Nebenrolle geglänzt. Ein Jahr danach spielte sie Gwyneth Paltrow in Anthony Minghellas Adaption von Patricia Highsmiths Roman The Talented Mr. Ripley an die Wand. Sie war fantastisch glamourös als Katherine Hepburn in Martin Scorseses The Aviator (2004), mächtig und weise als Elbenfürstin Galadriel in Peter Jacksons The Lord of the Rings-Trilogie (2001-3), posierte als Bob Dylan in Todd Haynes’ I’m Not There (2007) und ergraute für David Fincher in The Curious Case of Benjamin Button (2008) so graziös, dass sie selbst einen sich im Film stetig verjüngenden Brad Pitt alt aussehen ließ.


Das Besondere an Blanchetts Spiel ist ihr einzigartiges Gespür für zwiespältige Charaktere, Frauen, die anecken, aus der Rolle fallen, in Ungnade stürzen, herausfordern – nicht nur sich selbst. Bei ihr wird aus Ernst mit einem Wimpernschlag Ironie, und es besteht stets die Gefahr, dass ihre Schönheit ohne Vorwarnung ins Böse, Brutale oder Vulgäre kippen kann. Auch auf der Bühne in Stücken wie „Electra“, „Hedda Gabler“ und „A Streetcar Names Desire“ stehen ihre Figuren nie für eine Wahrheit. Sie sind widersprüchlich und sympathisch, verständlich und kritisierbar. Immer ringen sie mit persönlichen Problemen und gesellschaftlichen Normen zugleich. Im Kino auf der große Leinwand manifestiert sich das Bild. Ob Independent- oder Studio-Film: Blanchett befreit ihre Protagonistinnen aus sämtlichen Klassen und Konventionen, die ihnen nicht nur in Hollywood traditionell zugeschrieben werden. Wenn etwa die verwöhnte, egozentrische Titelfigur aus Woody Allens Tragikomödie Blue Jasmine (2013) ihren Traum von einem sorgenfreien Luxusleben begraben muss, weil sich ihr Ehemann mit seinen dubiosen Geschäften ins Aus katapultiert hat. Oder die erfolgreiche TV-Produzentin und CBS-Journalistin Mary Mapes in Truth (2015), die im Vorfeld der Wahlen 2004 wegen einer Reportage über Präsident George W. Bush ins Kreuzfeuer gerät. Auch die junge, idealistische Lehrerin Sheba, die in Richard Eyres Notes on a Scandal (2006) eine Affäre mit einem minderjährigen Schüler eingeht und dadurch für ihre ältere Kollegin (Judi Dench) erpressbar wird, legt Blanchett in einem Dazwischen aus Melancholie und Lebenshunger an. Doch bis heute hat keine ihrer Rollen so schön, so heftig, so glühend für die Liebe gekämpft und dabei gleichzeitig derart kühl und unnahbar gewirkt wie Carol in Todd Haynes’ gleichnamigen Film, in dem Blanchett eine mondäne Hausfrau im New York der 1950er Jahre spielt, die eine junge Verkäuferin (Rooney Mara) in Manhattan verführt.

Aber das alles war, wie gesagt, bis heute. Denn jetzt kommt Lydia Tár und eröffnet in Blanchetts schier unerschöpflichem Rollenrepertoire noch eine ganz andere Kategorie: Die Überfliegerin, das Genie im freien Fall. Ihre deutsche Kollegin Nina Hoss, die im Film Társ Lebenspartnerin und die Konzertmeisterin der Berliner Philharmoniker spielt, sagte kürzlich in der „ZEIT“: „Man bekommt es mit einer genialischen Künstlerin zu tun, die so viel Passion hat für das, was sie tut, dass sie einen mitreißt.“ Und wie tief die Dirigentin dabei sich selbst, ihre Mitmenschen und das Publikum in den Abgrund stürzt, zeigt der Regisseur und Drehbuchautor Todd Field im Verlauf der Handlung schmerzlich genau.
Zunächst sind es nur kleine Irritationen und Ablenkungsmanöver, die langsam und absichtlich ein Gefühl der Verunsicherung und Paranoia erzeugen: Ein anonymes Geschenk, das sie verunsichert, seltsame Geräusche, die zunehmend Társ empfindliches Gehör stören, sowie ein rätselhaftes geometrisches Gebilde, das die akribische Perfektionistin auf mysteriöse Weise zu verfolgen scheint und immer mehr, immer deutlicher aus dem Gleichgewicht bringt. Parallel dazu häufen sich eine Reihe privater und beruflicher Schwierigkeiten. Die Stimmung in ihrer Ehe mit Sharon (Hoss) ist angespannt, die gemeinsame kleine Tochter wird in der Schule gemobbt. Der ausgediente zweite Dirigent des Orchesters (Allan Corduner) will den Platz nicht räumen. Dafür scheint ihre Assistentin Francesca (Noémie Merlant), die selbst musikalische Ambitionen hat, ständig kurz davor zu sein, das Handtuch zu werfen. Die erste, wie sich bald herausstellt, wäre sie nicht.
Tár mag eine, vielleicht sogar die größte Meisterin ihrer Kunst sein, aber aus dem Nebel der Anspielungen und Vermutungen löst sich schemenhaft der Schatten des Monsters. Es geht um Bevorzugung und Mobbing, sexuelles Fehlverhalten und Suizid, das ganze Programm. Wir werden Zeuge, wie eine jungen Cellisten, die sich auf einen Platz im Orchester bewirbt, Lydias Passion für musikalische Perfektion und wilde Schönheit neu entfacht. Sie gibt ihr alles, weil sie nicht anders kann. Eine Frau von Társ Kaliber kennt nur alles oder nichts. Im Zuge ihrer Euphorie stößt sie eine andere Musikerin harsch vor den Kopf, indem sie ihr ein Solo verweigert, das ihr rangtechnisch zugestanden hätte. Rücksicht auf Gefühle oder gar Verluste zu nehmen, kommt einer weltberühmten Dirigentin wie ihr, die sich mühsam den harten Weg an die einsame Spitze erarbeitet hat, nicht in den Sinn.

 

Die Kamera von Florian Hoffmeister nimmt das alles mit fast unerträglicher Klarheit, kühler Distanz und expliziter Kontrolle auf, während Fields Drehbuch nahtlos zwischen Künstlerdrama, Backstage-Farce und menschlichem Thriller changiert. Er verzichtet darauf, Schadenfreude walten zu lassen, verweigert seiner Protagonistin aber auch jedes Mitgefühl. Die Frage ist, ob Tár in diesem bösen Spiel tatsächlich die Täterin, das Opfer oder beides ist. Der Mann, der sie am Dirigentenpult ersetzen wird, als die Vorwürfe gegen sie publik werden, ist nicht halb so gut, und Társ Reaktion auf den Machtwechsel offenbart ein unauslöschliches Bild der künstlerischen Erniedrigung. Ihr Zerfall ist so erschütternd, so ungeheuerlich, nicht weil sie es nicht verdient hätte, sondern weil sie ein Mensch ist, mit Stärken und Schwächen und einem gewaltigen, schonungslosen Talent.
Blanchetts schauspielerische Meisterleistung, die Fähigkeit, ihrer Figur brachiale Strenge und tiefe Leidenschaft im gleichen Atemzug zu verleihen, wurde in Venedig bereits mit einem Silbernen Löwen belohnt. Und es dürfte, wenn es mit rechten Dingen zugeht, im Hinblick auf die bevorstehende Oscar-Saison nur die erste wohlverdiente Auszeichnung sein. Das Faszinierende an ihrer Darstellung ist, wie konträr sie ihrer Figur auf persönlicher Ebene gegenübersteht – und auch wieder nicht. Es ist charakteristisch für Blanchett, dass sie ihren Aufstieg zum Filmstar von globaler Dimension ausschließlich ihrer Arbeit verdankt. Über ihr Privatleben gibt sie bekanntlich nur das Nötigste preis. Dass sie Mutter von drei Söhnen und einer Adoptivtochter ist, erzählt sie nur gern, weil sie stolz auf ihren Nachwuchs ist. 2008 traf sie die riskante Entscheidung, ihre Filmrollen einzuschränken, um sich mehr auf die Familie zu konzentrieren und gemeinsam mit ihrem Mann die künstlerische Leitung der Sydney Theatre Company zu übernehmen. Ihr war damals durchaus bewusst, dass dieser Schritt ein Wagnis bedeutete; ein Fehler, wie viele behaupteten, war es ihrer Ansicht nach nicht: „Ich glaube, dass ich dadurch eine bessere Schauspielerin geworden bin. Wenn nicht, bin ich eine ganz schöne Idiotin.“ Als sie sich 2014 in Blue Jasmine offiziell mit einer Hauptrolle im Kino zurückmeldete, wurde sie mit einem zweiten Oscar belohnt.
Allens Film war ein Geschenk, ein großes Glück, so sieht Blanchett ihren Erfolg. Und es stimmt schon, solche Filme gibt es nicht allzu oft. Mit Tár kommt nun eine weitere Ausnahme hinzu. Als Charakterstudie lädt Fields intensives Psychodrama dazu ein, intensiv über die Frau im Zentrum nachzudenken, über die Bedeutung ihrer Arbeit und die Folgen ihres Handelns; darüber, ob man sie bewundern, bemitleiden oder verachten sollte, und ob man Kunstschaffende überhaupt vielleicht nur in Bezug auf ihre Kunst beurteilen sollte und nicht danach, wer sie als Privatmenschen sind. Klare Antworten liefert der Film auf keine dieser Thesen. Aber genau darum geht es Blanchett, wenn sie ihre eigene große Kunst, ihr ewig wandelbares Können, ihre rätselhafte Aura in die Figur legt. Nicht umsonst hat sie einmal gesagt: „Ich fühle mich wohl, wenn die Arbeit Grenzen überschreitet, wenn es keine einfachen Antworten gibt, nur spannende Fragen gestellt werden.“ Ein Blick auf Lydia Tár genügt, und man glaubt es ihr gern.

 

TÁR
Drama, USA/Deutschland 2022 – Regie und Drehbuch Todd Field
Kamera Florian Hoffmeister Schnitt Monika Willi Musik Hildur Guðnadóttir Sound Roland Winke Production Design Marco Bittner Rosser Kostüm Bina Daigeler
Mit Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie Kauer, Julian Glover, Allan Corduner, Mark Strong, Sylvia Flote
Verleih UPI, 158 Minuten
Filmstart 2. März 2023

| FAQ 68 | | Text: Pamela Jahn
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