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Allzumenschliches

Text: Ballhausen Thomas | Fotos: Press

Der vielumstrittene Friedrich Nietzsche, der im Titel der vorliegenden Buchtipps wenig zufällig anklingt, billigt der Literatur einen anderen (arg verknappt formuliert: schlechteren) Stellenwert in der Darstellung der Menschen zu als der Philosophie. Kann es in Sachen Kriterien aber, so ist man verleitet zu fragen, wirklich vorrangig um die akkurate Abbildbarkeit gehen, um das Begreiflichmachen des Menschlichen? Die hier vorgestellten Lektüretipps, deren Strandtauglichkeit über die jeweiligen schönen Buchcover deutlich hinausgeht, haben auf ihre sehr unterschiedliche Weisen eben den Menschen im Blick – inklusive der (sogenannten) Wahrheit über ihn: Auch wenn der Titel irreführend anmuten mag, die jüngste Aufsatzsammlung Peter Sloterdijks hat sich tatsächlich einer Geschichte des letzten Centenniums verschrieben. Mit „Was geschah im 20. Jahrhundert“ fragt er mit Gewandtheit, und durchaus im Anschluss an seine jüngsten Veröffentlichungen, nach einer Entwicklung der Menschheit, ihrer Historie und ihrer Geschichtlichkeit. Anhand einer denkerischen Viel-Felder-Wirtschaft wird abseits klassischer Modelle nach Politik, Ökonomie oder auch Ökologie gefragt. Der vom Verschwinden bedrohte Mensch, dessen Verantwortungen und Einschreibungen im zwischenzeitlich feuilletontauglichen Begriff des „Anthropozän“ gefasst ist, muss, so wird hier anschaulich und rhetorisch bestechend vorgeführt, ein Denker abseits der vernutzenden Strategieangebote der jüngsten Vergangenheit sein – oder er wird nicht mehr sein.

Jakob Nolte hat mit seinem Roman „ALFF“ den gleichen Zeitraum im Blick: Er entfaltet die sechs Jahre zwischen 1994 und 2000 als Kriminalgeschichte, angesiedelt im schaurig-schönen Beetaville. Dieser fiktive Neu-England-Ort ist Schauplatz einer Mordserie, in dem der Jugendliche Benjamin McNash das erste Opfer des „Vollstrickers“ wird. Eingewoben in eine Drahtzaun ist der Fund seiner Leiche grundlegender Impuls für mannigfaltige Entwicklungen an der städtischen „High and Low School“, namentlich weitere Gewalttaten, soziale Verschiebungen, romantische Verstrickungen und natürlich auch der Auftakt von mehreren Ermittlungsversuchen. Zwischen beiläufig ausgestellter „Phänomenologie des Spuks“ und wohlrecherchierten Details entfaltet Nolte in eigenwilliger Kunstsprachlichkeit einen Thriller der ungewöhnlichen Art, der sich vor allem auch als phantastische (und deshalb umso tauglichere) Annäherung an die menschliche Wirklichkeit lesen lässt.

Valeria Luisellis jüngste Veröffentlichung ist ebenfalls von einer gelungen Umsetzung paralleler künstlerischer Ansätze geprägt. „Die Geschichte meiner Zähne“ erzählt einerseits vom Aufstieg des Wachmanns Gustavo Sánchez Sánchez zu einem weltberühmten Auktionator, andererseits vom Erzählen an sich. Motiviert vom Wunsch, die eigenen schlechten Zähne durch ein perfektes Set zu ersetzen, schwingt sich ihr Protagonist zum redegewandten Verkäufer auf. Seine Geschichten verleihen den jeweiligen Objekten Bedeutung und damit auch Handelswert. Abseits aller Konventionen ist Luisellis Text Ausdruck einer Befragung von dem, was die Form des Romans – auch hinsichtlich Menschenbild – zu leisten vermag. Wobei: Wem dabei all diese Tipps in Sachen Menschen und Wahrheit aber noch nicht weit genug gehen, sei der Eingangs erwähnte Nietzsche empfohlen, der auf seine Weise stets lohnend und aktuell ist. Und sind knallgelbe Cover nicht ohnehin immer sommertauglich?

Peter Sloterdijk

Was geschah im 20. Jahrhundert?

Berlin: Suhrkamp Verlag, EUR 27,70

Jakob Nolte

ALFF

Berlin: Matthes & Seitz, EUR 18,50

Valeria Luiselli

Die Geschichte meiner Zähne

München: Verlag Antje Kunstmann, EUR 19,50

| FAQ 38 | | Text: Ballhausen Thomas | Fotos: Press
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