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ANTANAS SUTKUS – CHILDREN

„Die Fotografie verzauberte mich: Ich tauchte ein weißes Blatt Papier in Entwicklerflüssigkeit und langsam trat ein menschliches Gesicht hervor. Ich glaubte, eine Person zu erschaffen.“

Boys on their way to the city. Žemaitija, 1969. Antanas Sutkus Children, steidl 2021

Der Litauer Antanas Sutkus, Jahrgang 1939, gehört zu den bedeutendsten Vertretern der humanistischen Fotografie; bekannt wurde er nicht nur durch jene Aufnahmen, die das freudlose kommunistische Alltagsleben einfingen, sondern auch durch sein zur Ikone gewordenes Porträt des Existenzialisten Jean-Paul Sartre auf der Kurischen Nehrung. Sutkus selbst empfand die Fotografie dabei stets als etwas Magisches, wie er 2018 verriet: „Die Fotografie verzauberte mich: Ich tauchte ein weißes Blatt Papier in Entwicklerflüssigkeit und langsam trat ein menschliches Gesicht hervor. Ich glaubte, eine Person zu erschaffen.“
Nun widmet sich ein Buch seinen Fotografien von Kindern, zu denen er nach eigener Aussage ein ganz besonderes Verhältnis hat: „Es fiel mir sehr leicht, mit Kindern in Kontakt zu kommen. Denn sie waren nicht nur gut darin zu schweigen, sondern auch darin zu erzählen, sie sprachen und es war leicht, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Das war meine erste Fremdsprache. Sie hat ihre eigenen Regeln und folgt einer anderen Logik.“

Frozen window. Paupio Street. Vilnius, 1966. Antanas Sutkus Children, steidl 2021

„Kinder leben in einer anderen Welt. Manchmal ist es mir gelungen, diese Welt zu zeigen: nicht die reale Welt, die wir gewohnt sind, sondern ihre Welt. Kinder leben nicht auf der Erde, sondern auf einem anderen Planeten.“ Den Erwachsenen nicht mehr begreiflich: Gefühle scheinen unverstellter zum Ausdruck zu kommen, unmittelbarer treten Langeweile oder Versunkenheit, Trauer oder Aggression, Freude und liebevolle Zuneigung hervor, das volle Spektrum menschlicher Emotionen wird sichtbar. Die Lust und Freude am Erforschen, am Ausweiten der Grenzen: zu sehen ist der Explorationsdrang der Kinder, zumal wenn sie im besten Fall „sicher gebunden“, wie die Kinderpsychologie es nennt, ihre Welt erkunden.
Geschätzt sind es an die 500.000 Fotografien, die in Sutkus’ Fotoarchiv lagern. Die Auswahl an Bildern von Kindern zeigt eine ganze Reihe bislang nicht publizierter Fotos, die zum Teil vielleicht unter Zensurbedingungen der Sowjetunion nicht ins offizielle Weltbild passten, womöglich ihrer Zeit voraus, nicht einordenbar, quer zu gewünschten Themen lagen, die zwischenzeitlich aber auch als verschollen galten und erst nach Jahrzehnten – als „Dachbodenfund“, vergessen in einem Koffer – überraschend wiederaufgetaucht waren; Teile dieses Bilderschatzes sind hier zu besichtigen.

Boy in a truck. Vilnius, 1966. Antanas Sutkus Children, steidl 2021

Sutkus’ Bildwerke, die sich seinem Blick für Kinder verdanken, übersteigen bei weitem, was man geläufig als Momentaufnahmen bezeichnet hat, sie fixieren Atmosphären zumeist aus Litauen zur Zeit der späteren Sowjet-republik und lassen zugleich, als Kindheitsdokumente von ganz eigenem spezifischem Gewicht die Zeichen ihrer Entstehungszeit hinter sich. Von grafischem Aufbau und klarer Formensprache sind sie in ihren Motiven erzählerisch ausgeprägt, von besonderer Leichtigkeit und Dezenz seiner Kunst gekennzeichnet, und vermögen den Betrachter zu berühren, dass sich unwillkürlich ein Gefühl mitteilt und der Glücksfund wahrgenommener Anmut im Moment der fotografischen Aufnahme Bestand hat. Vor allem sind es die Blicke der Kinder, deren Betrachtung fasziniert, Blicke, die mit dem Ausdruck einer unerhörten Offenheit, ohne Arg, mal aufmerksam, mal träumend, meist voller Neugier und Interesse ins Objektiv gerichtet sind.

Etwas vom Blick des Kindes muss sich der Fotograf erhalten haben, Momente des Zugangs zur Welt der Kindheit, in deren Erinnerung auch etwas Heiles, die Erfüllung eines Kinderwunsches überlebt haben mag. Zugleich ist ein liebevoller, empathischer Blick auf den Nachwuchs spürbar, von dem seine zwischen 1959 und 1979 datierten Aufnahmen – 163 ganzseitige Schwarz-weiß-Tableaus in ausgezeichneter Qualität – Zeugnis ablegen.

Antanas Sutkus CHILDREN
Herausgegeben von Thomas Schirmböck,

Text von Wladimir Kaminer, Steidl Verlag,
180 Seiten, 160 Abbildungen, EUR 48

 

| FAQ 62 | | Text: Jörg Becker
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