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Archäologie entlang der offenen Wunden der Geschichte

Text: Schöny Roland | Fotos: Press
© Kader Attia, courtesy the artist and Galerie Krinzinger

Wie der Künstler und Philosoph Kader Attia sich der Gegenwart von Geschichte annähert, lässt sich im Grunde anhand der Entwicklung von Popmusik erklären. Aus der Blues-Kadenz der in Amerika versklavten Schwarzen wurde sie sukzessive in den weißen Rock’n’Roll transformiert und kulturindustriell vermarktet. In einer Vielzahl von Variationen allerdings vermischten sich Blues, Jazz, Salsa oder Merengue aus Mittelamerika später wieder mit den lokalen Musiktraditionen afrikanischer Länder. Deren Unabhängigkeitsbestrebungen seit den 1960er und 1970erJahren stärkten das Selbstbewusstsein für eigene Traditionen, was schließlich zu neuen Verknüpfungen akustischer Muster und Bedeutungssysteme führte. Während Bewegungen des Kolonialismus im 19. Jahrhundert noch europäische Musikinstrumente nach Ghana, Nigeria oder Sierra Leone brachten, kam es dann schließlich zum Import der E-Gitarre. So entstand zum Beispiel Highlife als Verschmelzungsprodukt zwischen den Elementen der Musik Ghanas mit europäischen Instrumenten. In Nigeria oder Sierra Leone schließlich beeinflusste dies den zeitgenössischen Pop und damit auch Größen wie Fela Kuti.

Tatsächlich machte Kader Attia solche sonischen Prozesse zum Thema einer mit vielfältigen Sounds unterfütterten Diaprojektion von Schallplatten-Covers in einer Ausstellung in den Kunstwerken Berlin im Jahr 2013. Nur zum Teil interessiert ihn jedoch die Oberfläche kultureller Codierungen von Rhythmen und Klangfärbungen in der populären Musik, die gerne mit marktkonformen Labels wie Afro-Pop oder Weltmusik versehen werden. Denn hinter dieser auch für westliche, europäische Ohren so attraktiven und schönklingenden Polyphonie der Stile steht die gewaltsame Geschichte der oft mit Ausbeutung, Aneignung, Deportation und Massenvernichtung breiter Teile der ansässigen Bevölkerung verbundenen Kolonisation des afrikanischen Kontinents. In der Schlussakte der vom deutschen Reichskanzler Bismarck einberufenen Kongokonferenz 1884-85 fand die Aufteilung Afrikas per Lineal auf der Landkarte unter den Mächten Europas einen ihrer ersten Höhepunkte.

Aufbruch ins Herz der Finsternis

Der Aufbruch in das von dem polnischen, in englischer Sprache schreibenden Schriftsteller Joseph Conrad so apostrophierte „Herz der Finsternis“, der propagandistisch als humanitärer Kreuzzug unter der Flagge der Modernisierung verkauft wurde, entlarvte sich vor Ort als Schreckensherrschaft und Kampf um die Rohstoffe des schwarzen Kontinents. Aus genau dieser Expansionspolitik seien Rassenlehren entstanden, um die zynische Hierarchie der Unterdrückung und Vernichtung auch in Europa zu legitimieren, stellte die politische Philosophin Hannah Arendt fest. Spätestens in dieser Phase der Geschichte konstituierte die Moderne ihr Doppelgesicht. Während sie sich auf der einen Seite als rationale Strömung der Erneuerung und Aufklärung, der geglätteten Reinheit und Reduktion in der Architektur und somit als Dynamik zur Technifizierung und der Herausbildung neuer Lebensstile formierte, hinterließ sie auf der Gegenseite ihre mit Blut durchtränkten Spuren.

Diese historische Gemengelage ist Ausgangspunkt für die breit aufgefächerten Forschungsprojekte des Kader Attia, die sich in den verschiedensten Ausdrucksformen der bildenden Kunst manifestieren: Als raumfüllende Installation etwa; dicht befüllt mit Skulpturen, Büchern und Bildern, die man als Ballast des menschlichen Leids umschreiben könnte. Oder in Form von Video- und Fotoarbeiten, die immer wieder um Fragen unseres Umgangs mit Geschichte kreisen und vor allem die Sicherheit eindeutiger Lesbarkeiten und Interpretationsformen unterlaufen. Ebenso gibt es Bildcollagen von Attia, in denen er Themen der Architektur und des Alltags nebeneinander stellt. Seine raumfüllende Installation „Ghosts“ aus billigen Alufolien hingegen symbolisiert eine Gruppe muslimischer Frauen beim Gebet: Leere Hüllen ohne Persönlichkeit auf dem Boden niedergeworfen. In seiner aktuellen Ausstellung in der Wiener Galerie Krinzinger kann es sogar passieren, dass man über armdicke, zerdrückte Patronenhülsen aus Überresten Syrischer Artilleriemunition stolpert, die wie hingestreut auf dem Boden liegen. Angesichts der dramatischen Ereignisse im nordarabischen Raum lässt sich über deren Aussage wohl kaum spekulieren.

Kader Attia arbeitete sich im Zuge seines Philosophiestudiums an den strukturalistischen Analysen biopolitischer Macht eines Michel Foucault ab und beschäftigte sich mit den Überlegungen zu einer politischen Ästhetik von Jacques Rancière. Seine Kindheit und Jugend verbrachte der 1970 geborene Künstler zwischen der Banlieue im Vorort Dugny nordöstlich von Paris und dem Quartier von Bab el Oued in Algier, dessen Bewohner eine höchst widersprüchliche Rolle zur Zeit des Aufstandes gegen die koloniale Besatzungsmacht Frankreich im Jahr 1962 einnahmen. Aber nicht allein die Interferenz zwischen dem vorwiegend christlichen Europa und dem islamischen Maghreb prägten seine Weltsicht. Es hat auch der Ort der ersten großen Einzelausstellung Kader Attias „Humanistes au Congo“ symbolträchtige Bedeutung. Attia eröffnete sie 1996 in Brazzaville, der Hauptstadt der Republik Kongo, die noch dazu während des Nationalsozialismus für kurze Zeit zum Regierungssitz des freien Frankreich erklärt worden war.

Vollständiger Artikel in der Printausgabe. 

KADER ATTIA – Complementary Conversations

GALERIE KRINZINGER, 1010 WIEN, Seilerstätte 16

bis 16. Mai 2015

KADER ATTIA – Ghosts

stiftelsen 3,14 – International Art Foundation

5014 BERGEN, NORWEGEN

bis 3. Juni 2015

KADER ATTIA

Musée Cantonal des Beaux-Arts

1014 LAUSANNE, SCHWEIZ

22. Mai bis 30. August 2015

 

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