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Aris Welt

Mit „Beau Is Afraid“ legt Genreregisseur Ari Aster sein drittes Werk vor. Keine Angst, ein Horrorfilm ist es nicht – aber ein gewaltiges Psycho-Epos, das einem so ziemlich alles abverlangt.

Ari Aster antwortet mit einem versteckten Grinsen im Gesicht: „Es soll sich tatsächlich so anfühlen, als hätte man etwas durchgemacht“, versichert er stolz auf die Frage, was hinter seinem neuen Film steckt. Es sei ihm darum gegangen, „die Erfahrung eines Menschen hautnah mitzuerleben.“ Und der New Yorker Genre-Spezialist weiß genau, was Beau Is Afraid dem Publikum abverlangt. Sein neuer Film taucht kopfüber ein in die intensive, immersive Welt von Beau Wassermann (Joaquin Phoenix), einem ängstlichen Mann mit Mutterkomplex und, milde ausgedrückt, noch einigen Problemen mehr. Ein bevorstehender Besuch zu Hause wird ihm zum Verhängnis: Als Beau am Morgen auf dem Weg zum Flughafen seine Wohnung viel zu spät verlässt, weil ihm sein Nachbar in der Nacht zuvor den Schlaf geraubt hat, geht er trotzdem noch einmal zurück, um seine Zahnseide zu holen. In den wenigen Sekunden, in denen er ins Bad hechtet, werden ihm sein Koffer und die Schlüssel von der Haustür geklaut. Was soll er jetzt machen? Panik steigt in ihm auf. Er kann die Enttäuschung seiner Mutter Mona (Patti LuPone) am ganzen Körper spüren. Als er sie schließlich völlig aufgelöst anruft, legt sie ihm mit ernster Stimme nahe, „das Richtige zu tun“.

Von da an nimmt das Übel unaufhaltsamen seinen Lauf: Auf der Straße herrschen bürgerkriegsartige Zustände; ein nackter Irrer hat es auf Beau abgesehen. Nach einem Unfall landet er in der Obhut eines überfürsorglichen Chirurgen (Nathan Lane) und dessen Familie. Als die Situation dort allzu brenzlig für ihn wird, findet er Zuflucht bei einer nomadischen Theatertruppe im Wald. Beau durchlebt Gewalt und Schrecken, Wunder und Wahnsinn, fantastische Zeitreisen und beklemmende Alpträume – und steht irgendwann vor dem letzten Gericht. Klingt verrückt? Ist verrückt! Aster macht auch in Beau Is Afraid keine Kompromisse, immer geht es bei ihm um alles oder nichts. Über zehn Jahre lang hat er am Drehbuch geschrieben. Eigentlich sollte das surreale Drei-Stunden-Epos einmal sein Regiedebüt werden. Aus dem Plan wurde zwar nichts, weil er damals lediglich auf hochgezogene Augenbrauen und geschlossene Scheckbücher stieß. Doch der heute gerade mal sechsunddreißigjährige Regisseur weigerte sich hartnäckig, seine Vision aufzugeben: „Ich wollte einen Film machen, der lustig und traurig ist.“ Jeder Versuch, das Ergebnis näher zu beschreiben, scheitert an der Komplexität und Eigenart des Projekts. „Freudsche Odyssee“ trifft es vielleicht am ehesten, wird dem emotionalen und physischen Erlebnis als solchem aber trotzdem nicht vollkommen gerecht. Der Film hat von allem etwas: Wahrheit und Grauen, Humor und Manie. Beau hat Angst, so viel steht fest – aber man fragt sich manchmal, ob es Ari Aster wirklich gut geht.

Für den Regisseur stellt sich die Frage nicht. Er mag Filme, die verstören. Das war schon immer so. Sein erstes Kinoerlebnis hatte er mit vier Jahren, als er Dick Tracy sah. In dem Moment, wo im Film die Schießerei beginnt, flüchtete er. „Meine Mutter musste mir zehn Häuserblocks hinterherjagen, während ich mir meine kleine Seele aus dem Leib schrie.“ Kurz vorgespult und plötzlich taucht Aster 2018 beim Sundance Film Festival erstmals auf der Bildfläche auf. Sein Debüt Hereditary, in dem er aus der Trauer um eine verstorbene Matriarchin eine zutiefst beunruhigende Geistergeschichte strickte, brachte ihm damals direkt Vergleiche mit Meistern wie Stanley Kubrick und Ingmar Bergman ein. Kaum ein Jahr später legte er mit Midsommar einen im grellen Sonnenlicht erstrahlenden Folk-Horror und seine eigene bitterböse, metaphorische Abrechnung mit toxischer Männlichkeit nach. Beide Filme wurden zu Sofort-Klassikern. Und Beau Is Afraid steht dem, wenn auch aus anderen Gründen, in nichts nach.

Wieder geht Aster stilistisch und erzählerisch aufs Ganze, wieder erweist er sich als Meister der Exposition. Eine gute Stunde lang nimmt sich der Film Zeit, uns mit der Paranoia, die Beaus Leben bestimmt, vertraut zu machen, uns in seinen Kopf und seinen Körper hineinzuversetzen, egal, was er tut. Es geht um die tägliche Qual der Wahl eines traumatisierten Menschen, das Haus zu verlassen und Entscheidungen treffen zu müssen. In Beaus Welt setzt jeder Schritt, jede Handlung zwangsläufig eine Reihe von unausweichlichen Untergangsvorstellungen in Gang, die seine Neurose befeuern. Die zentrale Idee, erklärt Aster, sei es jedoch immer gewesen, eine Art Roadmovie zu drehen, in dessen Zentrum steht, was den Regisseur selbst regelmäßig in Panik versetzt: „Nichts macht mir mehr Angst, als zu reisen oder auch nur eine Reise zu planen. Erst wenn die Entscheidungen getroffen sind und es nicht mehr in meiner Hand liegt, was passiert, kann ich mich darauf einlassen und mich meinem Schicksal fügen.“

Ganz ähnlich geht es Phoenix mit seiner Rolle, die er wie immer spielt, als könnte es seine letzte sein. Akribisch versucht er Beau bis in den letzten Winkel seiner Psyche zu ergründen, als würde es darum gehen, ein Verbrechen aufzuklären: sein Aussehen, seine Stimme, jeder Blick und jede Geste, nichts in der Verkörperung seiner Figur ist dem Zufall überlassen. Auch die meisten seiner Stunts führte er selbst aus, lieferte sich Verfolgungsjagden im Wald, sprang durch Glastüren und verkeilte sich in einer Badewanne, während ein echter Stuntman, der im Film einen vermeintlichen Angreifer mimt, wie eine Spinne an der Decke über ihm klammerte. Aster sagt, er habe in seinem Hauptdarsteller so etwas wie einen Seelenverwandten gefunden. Phoenix sei mit Abstand der engagierteste Schauspieler, mit dem er jemals zusammengearbeitet hat – und keiner sei so gequält.

Natürlich kommen einem, wenn man sich gemeinsam mit Beau auf die Suche nach dem zentralen Geheimnis seines bizarren Lebens macht, unweigerlich auch Phoenix’ große Auftritte in Todd Phillips’ Joker (2019), Paul Thomas Andersons The Master (2012) oder Lynne Ramsays Neo-Noir-Thriller You Were Never Really Here (2017) in den Sinn. Sie alle wussten, dass es einen Ausnahmeschauspieler wie den 1974 in Puerto Rico geborenen Charakterkopf brauchen würde, um so unvergessliche Figuren wie Arthur Fleck, Freddie Quell oder den zutiefst traumatisierten Auftragskiller Joe im Kino glaubwürdig rüberzubringen. Wenn er sich erst mal an einer Rolle festgebissen hat, kennt Phoenix kein Halten mehr. Da gibt es kein Wenn und Aber. Für ihn, so scheint es, bedeutet jedes Bündnis mit einer Figur einen teuflischen Pakt, den zu brechen er nicht in der Lage ist.

Für Beau – und Asters Film insgesamt – ist das ein großes Glück, vielleicht sein größtes überhaupt. Denn der Mutterkomplex, unter dem Beau leidet, erweist sich bald derart kompliziert, dass der entfremdete Sohn, selbst nachdem er von Monas plötzlichem Tod erfährt, noch immer genauso stark wie zu ihren Lebzeiten an ihre dominierende Art gebunden ist. Als ihm von ihrem Anwalt übermittelt wird, dass ihre Beerdigung erst stattfinden kann, wenn Beau anwesend ist, setzt seine Angst vor der Demütigung einer möglichen Verzögerung in ihm eine emotionale Maschinerie in Gang, deren Kontrolle er nicht mächtig erscheint. Immerhin sind die Wassermanns Juden, und nach jüdischem Recht müssen Bestattungen innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach dem Tod stattfinden, da gibt es kein Pardon …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 70

 

BEAU IS AFRAID
Drama, Kanada/USA 2023 – Regie und Drehbuch: Ari Aster
Kamera: Pawel Pogorzelski, Schnitt: Lucian Johnston, Musik: Bobby Krlic / The Haxan Cloak, Szenenbild: Fiona Crombie
Mit: Joaquin Phoenix, Patti LuPone, Nathan Lane, Amy Ryan
Verleih: Constantin , 179 Minuten

 

| FAQ 70 | | Text: Pamela Jahn
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