Das Leben des Peter Brodbeck, wie Starfotograf Peter Lindbergh mit bürgerlichem Namen heißt, sah zunächst ganz und gar nicht nach Glamour und Jetset aus. 1944 in das untergehende Deutsche Reich hineingeboren, verbrachte er seine Kindheit im Ruhrgebiet, wo er mit seiner Schwester gerne auf Kohlehalden herumtollte und bei einem Verein Handball spielte. Materiell konnte man keine großen Sprünge machen: Der Vater war Vertreter, die Mutter Hausfrau. Der junge Peter verdingte sich zunächst als Schaufensterdekorateur, doch der Drang, in die weite Welt zu gehen und sich selbst zu verwirklichen, war stärker als die Aussicht auf ein geregeltes Leben. Mit 17 Jahren verließ er Duisburg ohne großen Abschied. Die verheißungsvolle Welt der Kunst lockte. Das Ziel war Berlin, wo Lindbergh nach einem Umweg über die Schweiz landete und Abendkurse an der Kunstakademie besuchte; ein buschiger Schnauzer und wildes Haar waren – der Zeit entsprechend – äußerliche Zeichen gesellschaftlicher Unangepasstheit. Der Nom de guerre, den er zu dieser Zeit annahm, verdankt sich übrigens, so Lindbergh, „nicht direkt“ dem berühmten Flugpionier, aber: „Er hatte eine gute Aura und war international. Er steht für Abenteuer, er löst etwas aus, er hat mir bestimmt geholfen“, wie der Fotograf 2011 in einem Gespräch mit der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ verriet.
Im Jetzt
Schon früh wurde klar, dass Lindbergh mehr an der Gegenwart denn an der Vergangenheit interessiert war: Klassische Kunst interessierte ihn nicht besonders, van Gogh und Picasso, für viele die Begründer der modernen Kunst, waren die großen Vorbilder. Von van Gogh war Lindbergh übrigens so sehr beeindruckt, dass er sich per Anhalter nach Arles aufmachte, um mit eigenen Augen zu sehen, wo der Meister gelebt hatte. Nach Aufenthalten in Spanien und Marokko ging er nach Krefeld, wo er an der Kunsthochschule Malerei studierte. In den späten 1960er Jahren folgten Ausstellungen im Bereich der Konzeptkunst, außerdem beteiligte Lindbergh sich an Theaterperformances. Das Geld war knapp, der Gestaltungswille groß. Anfang der 1970er Jahre entdeckte Lindbergh dann endgültig seine Leidenschaft – und sein Talent – für die Fotografie, vornehmlich in Schwarz-Weiß. Er wollte den Ruhm, und diesen sollte die Fashion-Fotografie bringen. Die erste Kamera: eine gebrauchte Minolta um wenig Geld. Die ersten Models: die drei Kinder seines Bruders. Diese Fotos wirken überaus unmittelbar und sind eine gelungene Symbiose zwischen Natürlichkeit und Stilisierung; sie machen auch deutlich, wie gut Lindbergh im Umgang mit Menschen ist, sie dazu bringt, sich der Kamera zu öffnen.
Ende der siebziger Jahre erfolgte der Durchbruch mit Fotografien für Zeitschriften wie „Vogue“, „Vanity Fair“ oder „Rolling Stone“. Schwarz-Weiß war von Anfang an Lindberghs Markenzeichen: Kunstkritiker machen darin Anleihen beim deutschen expressionistischen Film aus. Nicht selten präsentierte Lindbergh seine Models auch im Industriekontext, vor Stahlgebilden oder Stahlhallen – wenn man die einfachste Deutung wählt, kann man Einflüsse aus der Kindheit im Ruhrpott ausmachen.
Lindbergh hatte sich zwar bereits einen Namen gemacht, doch der ganz große Durchbruch kam Anfang der neunziger Jahre, als ihn die damals neue Chefredakteurin Anna Wintour zur amerikanischen „Vogue“ holte. Lindbergh konnte mit dem überstylten und geglätteten Schönheitsstandard der Modebibel damals nur wenig anfangen und setzte ein Cover durch, das auf Natürlichkeit setzte: Als erster Fotograf brachte er Linda Evangelista, Naomi Campbell, Tatjana Patitz, Cindy Crawford und Christy Turlington zusammen. Mit gelöstem Gesichtsausdruck und vergleichsweise wenig Make-up posierten sie wie eine verschworene Gang. Die „Vogue“-Verantwortlichen waren sich zunächst nicht sicher, was sie mit dem Material anfangen sollten, doch schließlich wurden die Fotos – zunächst in Großbritannien – gedruckt. Der Rest ist Geschichte, es war dies die Geburtsstunde des Phänomens „Supermodel“. Die erwähnten Frauen wurden globale Berühmtheiten, die ab nun nur noch für Mördergagen zu buchen waren. Lindbergh selbst konnte von nun an mit völliger künstlerischer Freiheit und hohen Budgets arbeiten. Gefragt ist er bis heute.
Film
Nun kommt also ein Film über den Fotokünstler ins Kino. Gedreht wurde er vom franzöischen Regisseur Jean-Michel Vecchiet, der sich zu Beginn gleich einmal selbst ins Bild rückt und betont, wie wichtig ihm die Kunst sei. Jackson Pollock etwa sei eines seiner Idole. Angesichts von Pollocks abstrakter Kunst vielleicht ein Hinweis darauf, was folgen wird? Dramaturgisch tut sich der Film jedenfalls schwer, springt zwischen den Zeiten hin und her, wird teilweise prätentiös, wenn er Werke von Schubert inklusive „Winterreise“ ertönen lässt und immer wieder auf die NS-Zeit eingeht. Es wirkt, als wollte hier jemand Lindberghs Leben zu einem schwergewichtigen Zeitpanorama aufblasen. Vieles wirkt arbiträr – Wortspenden von Lindberghs Frau und Schwester kommen und gehen ohne erkennbare Dramaturgie – und durch eine ständige Unruhe auf der visuellen Ebene wie auf der Tonspur bleibt der Fokus auf die Hauptfigur unscharf. Fragen des Stils, beispielsweise nach der Verwendung Schwarz-Weiß und künstlerischen Einflüssen, bleiben außen vor. Der Titel Women’s Stories schließlich trifft eigentlich nur insofern zu, als es hin und wieder Wortspenden von Weggefährtinnen gibt. Die mangelnde Distanz des Regisseurs zu seinem Subjekt lässt so etwas wie einen kritisch-hinterfragenden Blick nicht aufkommen.
Wem kann man die Doku – eigentlich mehr ein Essayfilm – trotz aller Einwände empfehlen? Lindbergh-Fans brauchen wohl ohnehin keine: Interessant ist für diese wohl vor allem das (ältere) Material, das den Mann bei der Arbeit zeigt. Lindbergh wirkt in solchen Szenen wie ein Wirbelwind, der die Models umtänzelt und sie mit seiner Begeisterung ansteckt. Dabei erscheint der Fotograf, der gern mit aufwendigen Sets arbeitet, streckenweise wie ein Hollywood-Regisseur (tatsächlich hat Lindbergh auch einige Kurz-Dokus gedreht). Menschen, die selber fotografieren, könnten vielleicht auch etwas mitnehmen: So sieht man etwa wie der Maestro eine unwillige Naomi Campbell dahingehend zähmt, dass sie in einen Swimmingpool steigt. Wer weiß, vielleicht erweist sich diese Szene ja einmal als praktisch, wenn man selbst einmal ein Model mit Allüren vor der Kamera hat.
Peter Lindbergh – Women’s Stories
Dokumentarfilm, Deutschland 2019
Regie Jean-Michel Vecchiet
Verleih Filmladen, 113 Minuten
Filmstart 2. August 2019