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Ausnahmezustand

Text: Bauer Jürgen | Fotos: Wiener Festwochen
Romeo Castellucci, La vita nuova © Stephan Glagla

Nacktheit und schockierende Bilder, die für sensible Besucher unangenehm sein können: die Hinweise zu manchen Stücken der Wiener Festwochen lassen verstörende Abende erwarten. Wer aber die Kunstschaffenden kennt, die sich hinter diesen Warnhinweisen verstecken – die Extremperformerin Angélica Liddell und der Bilderstürmer Romeo Castellucci –, der weiß, dass hier keine Provokation um der Provokation Willen wartet, sondern Kunst, die dorthin geht, wo es richtig weh tut. Liddell thematisiert in „The Scarlet Letter“ inmitten nackter Männerkörper die Zumutungen einer durchrationalisierten Gegenwart; Castellucci zeigt in zwei szenischen Installationen neue Aspekte seines radikalen Werks. Auch Markus Öhrn, der im letzten Jahr „Häusliche Gewalt Wien“ nachspüren ließ, versieht sein neues Werk „3 Episodes of Life“ mit dem Zusatz: für Zuschauerinnen und Zuschauer ab 16 Jahren. Von 10. Mai bis 16. Juni heißt es also: Weg mit der Angst, eintauchen in ein vielfältiges Programm aus Theater, Musik, Diskussion und Party.

Ab in die Donaustadt

Gleich zu Beginn laden die Festwochen ein, die ausgetretenen Pfade des kulturellen Wiens zu verlassen. Für Mariano Pensottis fünfstündiges Theaterereignis „Diamante“ wird in der Eissporthalle der Erste Bank Arena im 22. Bezirk gleich ein ganzes Dorf nachgebaut. Ein internationales Theaterprojekt dieser Größenordnung können in Österreich eigentlich nur die Wiener Festwochen stemmen. Umrahmt wird dieses Zentralstück des Eröffnungswochenendes von einem dichten Programm: Stücke, Installationen und sogar eine Einladung zum (Disco-)Eislaufen machen die Donaustadt zum Hotspot für alle Neugierigen. Den ganz eigenen Klang des Bezirks fängt die bildende Künstlerin Anna Witt mit „Beat House Donaustadt“ ein, wenn Bewohner ihre Fenster öffnen, individuelle Rhythmen erklingen lassen und sich zu einem kollektiven Sound vereinen. Und das Beste? Viele der Veranstaltungen sind bei freiem Eintritt zugänglich, so auch die Opening Party im Foyer der Eishalle, die einmalige Atmosphäre bei Club Feeling garantiert, etwa durch internationale Acts und das erste „All Black Female“ DJ & MC-Kollektiv, Bad & Boujee, aus Wien.

Bars, Partys, Talks

Auch nach dem Eröffnungswochenende werden genug Möglichkeiten zu ausgelassener Partystimmung geboten. Zwei Bars sorgen etwa für Orte der Begegnung bei Musik und Tanz. Zuerst im Volkstheater beheimatet, dann in die Gösserhallen weiterwandernd, schlägt dieser Treffpunkt an den zentralen Spielstätten seine Zelte auf. Zur Eröffnung gibt es hier wie da Opening Partys: Das Volkstheater wird im Anschluss an die Österreich-Premiere von Christian Fennesz’ neuem Album „Agora“ mit einem Konzert des Cellisten und Produzent Oliver Coates stilvoll eröffnet, in den Gösserhallen werden Sounds aus London, Wien und Shanghai das Industriegelände zum Beben bringen. Wenn schließlich die Bar in den Gösserhallen ihre Türen das letzte Mal öffnet, lädt die Closing Party zur großen Abschiedssause. Und damit die Wochenenden davor keine partyfreie Zone bleiben, gibt es jeweils an den Samstagen Night-Shifts, die auch den Bogen zum „Abendprogramm“ schlagen, zeigen hier doch Künstlerinnen wie Marlene Monteiro Freitas, Benny Claessens oder Ersan Mondtag neben ihren Theaterstücken auch ihr Talent als DJs.

Ekstatischer, schweißtreibender Tanz

Ersan Mondtag war es übrigens, der mit seiner von Ratten bevölkerten „Orestie“ bei den letztjährigen Festwochen begeisterte. Heuer wird er, gemeinsam mit der schauspielerischen Naturgewalt Benny Claessens, ein Stück Sibylle Bergs inszenieren: „Hass-Triptychon – Wege aus der Krise“. Marlene Monteiro Freitas wiederum entfacht für ihre gefeierte Choreografie „Bacantes – Prelúdio para uma Purga“ einen Rausch voller expressiver Bilder. Apropos Tanz: Dieser ist im Festwochenprogramm überhaupt stark vertreten. Empfehlungen gefällig? Mónica Calle probt in „Ensaio para uma Cartografia“ mit zwölf Frauenkörpern jenseits aller Normen und Schubladen den Gegenentwurf zu einer kapitalistischen Gesellschaft. Lia Rodrigues, die in der größten Favela Rio de Janeiros eine Schule für zeitgenössischen Tanz betreibt, wagt mit „Fúria“ eine Performance über die Umbrüche unserer Zeit. Ebenfalls aus Brasilien: Marcelo Evelin, der in „Matadouro“ acht Tänzerinnen und Tänzer in einen schweißtreibenden Kampf um Menschlichkeit und Würde schickt. Franz Schuberts Quintett in C-Dur, live interpretiert vom Hugo Wolf Quartett, liefert den Soundtrack. Nicht zu vergessen Phia Ménard, die in „Contes Immoraux – Partie 1: Maison Mère“ aus Kartons ein Haus für Europa errichtet. Klingt trocken? Ist aber ein ebenso radikaler wie mitreißender Abend, den man nicht verpassen sollte.

Filmstars und Geheimtipps

Wem vor so viel Tanz der Kopf schwirrt, der kann auch im Sprechtheater faszinierende Erlebnisse haben. Robert Wilson bietet für „Mary Said What She Said“ eine der ganz großen Schauspielerinnen unserer Zeit auf: Isabelle Huppert wird für den amerikanischen Minimalisten-Meister zu Maria Stuart. Krystian Lupa wiederum zeigt mit „Proces“ eine Adaption des Kafka-Romans, die er entgegen aller politischer Widerstände auf die Bühne brachte, inszenierte er den bürokratischen Irrsinn doch in auffälliger Nähe zum heutigen Polen. René Pollesch wird Stars der alten Berliner Volksbühne und des Burgtheaters vereinen. In „Deponie Highfield“ auf der Bühne: Kaliber wie Kathrin Angerer, Birgit Minichmayr, Caroline Peters und Martin Wuttke. Neben solchen schauspielerischen Großereignissen sind es erwartungsgemäß die Geheimtipps, die bei den Festwochen-Aficionados gefragt sind. Wo kann man heuer auf Highlights von in Wien noch ungekannten Künstlern hoffen? Etwa bei Sorour Darabi, autodidaktische*r Künstler*in aus Iran. Gleich zwei Stücke, „Savušun“ und „Farci.e“, zeigen einen Kosmos, der um Geschlechtszuordnungen und Körperbilder kreist. Wie auch immer die künstlerischen Vorlieben also aussehen: Fünf Wochen Festwochen-Ausnahmezustand sind auch heuer garantiert!

www.festwochen.at

| | Text: Bauer Jürgen | Fotos: Wiener Festwochen
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