Längst hat sie sich zu einem All-Over-Venice Art Event entwickelt: die älteste aller Kunst-Biennalen in Venedig. Schon bevor die Futuristen in Mailand mit ihrem Maschinengetöse aufheulten, sollte sie von 1895 an das kulturell rückständige Italien mit Positionen der internationalen Moderne aufrütteln. Heute hat die Biennale in der nach nationalen Pavillons zerklüfteten Parkanlage der Giardini mit den neoklassizistischen Ausstellungspalästen Frankreichs, Deutschlands oder Englands die gesamte Lagunenstadt erfasst. Zugleich saugen Ausstellungen wie jene von Rudolf Stingl (IT) in der Sammlung des François Pinault im Palazzo Grassi oder „Personal Structures“ mit Video, Malerei und Fotografie von Yoko Ono (JP), Roman Opalka (F), Otto Piene (D) oder VALIE EXPORT (AUT) im Palazzo Bembo, deren Eröffnung mit Partys gleich mehrere Nächte lang eingeleitet worden ist, weiteres Publikum an. Zur Ausdehnung der Biennale selbst hat Kurator Harald Szeemann durch die Verlegung der zentralen großen thematischen Ausstellung in die Hallen der ehemaligen Schiffswerft Arsenale und der Seilerei Corderie schon 1999 die Schleusen geöffnet.
In Folge globaler Transformation, im Zuge der Prozesse der Dekolonisation sowie der politischen Systemwechsel in Zentral- und Osteuropa im späten 20. Jahrhundert und neuerdings im arabischen Raum ringen nun immer mehr Staaten und regionale Szenen um Aufmerksamkeit. Sicher: Kunst ist international. Doch dahinter stehen stets lokalspezifische Bedingungen und Diskurse, verbunden mit den jeweiligen Modellen öffentlicher Förderung. Die Dynamisierung ist enorm. Nicht allein um Prestige geht es, sondern um Kunst als ein maßgebliches Feld der Wissensproduktion und der kritischer Auseinandersetzung über visuell transportierte Narrative. All dies spitzt sich zu in der Auszeichnung des Pavillons der südwestafrikanischen Republik Angola für ihr allererstes Venedig-Projekt „Luanda, Encyclopedic City“ im Palazzo Cini mit dem Goldenen Löwen.
In einer Fotoserie, die für das Publikum in Form von Postern stoßweise zur freien Mitnahme aufliegt, kartografiert der junge Künstler Edson Chagas die Stadt Luanda anhand diverser ausgesonderter Alltagsgegenstände in den Straßen wie kaputte Sessel oder ausgebrannte Computerbildschirme. Ein Streifzug mit der Foto-Kamera durch urban verdichtete Zonen und ländlich anmutende Peripherien, wo Müllflächen und öffentliche Plätze nahtlos ineinander übergehen. Dass ausgerechnet die Säle eines Palazzo, gefüllt mit Gemälden, Möbeln, Spiegeln und Porzellan vom 13. bis zum 16. Jahrhundert das Szenario für die im Juni eröffnete Ausstellung mit Posterdrucken auf Paletten abgeben, ist symptomatisch. Angesichts der Fülle an Projekten sind die Raumpotentiale in Venedig knapp geworden. Das führt zu Konfrontationen. Kaum woanders rücken Geschichte und Gegenwart in solch widersprüchliche Nähe und geraten derart unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen in deratige Parallelbahnen wie hier im temporären Pavillon der Republik Angola.
Auffallend zugleich, wie häufig auf dieser Biennale die Echoräume der Geschichte aufhallen. Im rumänischen Pavillon lassen die jungen Choreografen Alexandra Pirici and Manuel Pelmus¸ Werke und Katalogpassagen der bisherigen Biennalen als „Immaterial Retrospective of the Venice Biennale“ durch gesprochene Textzitate verbunden mit performativ körperlichen Interpretationen Revue passieren. Unter dem Projekttitel „English Magic“ umkreist Jeremy Deller (GB) im britischen Pavillon populärkulturelle Mythen seit dem frühen David Bowie im Medium der Fotografie. Auf einer Wandzeichnung schmeißt dann der viktorianische Künstler und Sozialist William Morris die Yacht des russischen Oligarchen Roman Abramowitsch wütend ins Meer, weil sie wieder einmal protzig vor dem Biennale Gelände exponiert war. Per Video wird auch noch Prinz William aufs Korn genommen, weil er angeblich auf einen geschützten Adler geschossen hat. Nur allzu nah allerdings bewegen all diese Mythen sich in Richtung Klischee, wenn der russische Künstler Vadim Zakharov (RU) in seiner performativen Installation „Danaë“ die Anbetung des Fetisches Geld noch dazu in Konnotation mit Sex thematisiert. Interessant zumindest ein wie ein Reiter im Gebälk sitzender Performer. Ebenso das Verbot für Männer, einen mit Geldregen „gesegneten“ Raum zu betreten, während Frauen Spaß beim Münzen einsammeln haben.
Weniger Event, dafür mehr Kunsthalle: die Ausstellung Deutschlands in dem per Gebäudetausch mit der Grande Nation bespielten französischen Pavillon. Auf das anachronistische Nationenprinzip reagierend, zeigt Kuratorin Susanne Gaensheimer die Inderin Dayanita Singh (IN) oder den südafrikanischen Fotografen Santu Mofokeng (SA). Großartig Dayanita Singhs Porträt der Transgender-Person bzw. des Eunuchen Mona in Schwarzweißfotografien, ergänzt durch einen Film. Formal trocken, klar und berührend. Mona lebt auf einem Friedhof in Alt-Delhi abseits aller sozialen Zugehörigkeiten. Santu Mofokeng wiederum dokumentiert fotografisch und mit Texten, wie spirituell aufgeladene Landschaften in der südafrikanischen Provinz Mpumalanga vor und nach dem Ende der Apartheid der wirtschaftlichen Aneignung von Land zum Opfer fallen.
Geschichte und Politik schwingen hier zumindest mit, und sind klares Thema bei Romuald Karmakars Film „8. Mai“ von 2005/2013 über die große NPD-Demonstration zum 60-jährigen Kriegsende in Berlin, während es Biennale Kurator Massimiliano Gioni nicht in den Sinn kommt, Perspektiven zumindest vorzuschlagen. Dessen zentrale Schau „Il Palazzo Enciclopedico“ im Arsenale ufert lexikalisch in die Breite aus. Auf dem braven Kulturwanderweg lässt sich trotzdem einiges entdecken: in einem intimen Raum Fotoalben aus der Privatsammlung der selbst stets in neue Rollenbilder schlüpfenden Cindy Sherman (USA). Oder: in einer Rotunde ausgebreitet die fein gearbeiteten Comics-Zeichnungen des Underground-Stars Robert Crumb (USA). Sexszenen verwoben mit alttestamentarischen Mythen („The Book of Genesis“, 2009). Und selbstverständlich Jim Shaw (USA), wie jedes Mal Richard Serra (USA), Shinro Ohtake (JP), Albert Oehlen (D), Matt Mullican (US), Ragnar Kjartansson (IS), Erik van Lieshout (NL). Kaum Frauen! Ein Zeichen ist es dennoch, wenn Maria Lassnig (AT) für ihr Lebenswerk mit einem Goldenen Löwen geehrt wurde.
Doch viel Interessantes, wie zwischendurch die Näharbeiten der großen rumänischen Künstlerin und Performerin Geta Braˇtescu (RO), die frechen, sexuell konnotierten Zeichnungen der Carol Rama (IT) oder Besonderes, wie die Gesteine aus der Sammlung des Surrealisten Roger Caillois (F) und Zeichnungen mit Kampf- und Tanzszenarien aus Melanesien geben einer Ausstellung noch keine Richtung. Hochwertiges zusammengetragen, zeugt noch nicht von der Lust, Neues zur recherchieren, um Kunst eigensinnig zum Sprechen zu bringen, wofür einstmals der Schweizer Harald Szemann (1933–2005) stand, dessen historisch bedeutende Ausstellung „When Attitudes Become Form“ (Bern 1969/Venice 2013) im Übrigen gerade in der Fondazione Prada reinszeniert wird.
Angesichts der Vielzahl etablierter und kaum in experimentelle Bereiche vordringenden Positionen, fällt bald auf, wie selten auf dieser Biennale aktuelle gesellschaftliche, politische oder ökonomische Fragen aufgegriffen werden; so als hätte die Kunst dazu nichts zu melden, und vor allem: so als hätte es nicht unlängst eine documenta gegeben, die vorbildlich Fragen nach dem Zusammenspiel des Ästhetischen mit dem kritisch Politischen aufgeworfen hat. Einzig Stevanos Tsivopoulos (GR) im griechischen Pavillon greift in seiner dreiteiligen filmischen Installation „History Zero“ pointenreich die existenzielle Dimension von money, money, Geld, Geld, chrímata, chrímata auf, indem er eine ältere, an Demenz erkrankte Kunstsammlerin, einen herumstreunenden Einwanderer, der auf der Straße Altmetall sammelt und einen Künstler, der ebenda Schnappschüsse macht, in einer aktuell zum Spielball einiger Banker und Spekulanten heruntergekommenen Welt porträtiert.
Weitaus weniger offensichtlich die politischen Momente im Werk des in Los Angeles lebenden Mathias Poledna (AT) im österreichischen Pavillon. Dass er seine langjährige Auseinandersetzung mit Populärkultur im Kontext der Moderne weiterführen würde, konnte man erwarten. Schließlich zählen Musik, Film und Design zu seinen zentralen Themen. Schon 2003 ging es in der Filminstallation „Western Recording“ um den seit den fünfziger Jahren legendären Tonstudio-Komplex United Western Recorders in Hollywood als kulturelles Narrativ und um die Entstehungsbedingungen von Popmusik. Denn Sam Cooke, The Mamas & the Papas oder The Beach Boys hatten da aufgenommen. Obwohl inhaltlich in der Nähe angesiedelt, überrascht Poledna nun mit einem extrem aufwändig im Stil der Disney-Studios hergestellten Zeichentrickfilm von nur 5 Minuten Länge. Mit der Kraft des Lichts, dem Spiel der Farben, der Dynamik des Wassers und der Natur, musikalisch untermalt von einem Orchester, evoziert der 35-mm-Streifen jene verführerische Atmosphäre, die der amerikanische Trickfilm in seiner Hochperiode in den späten dreißiger Jahren aufgebaut hat.
Das Werk ist einer jener farbenprächtigen Ladungen Opium für die Massen nachempfunden, wie sie als „Entertainment“ daher kommend nach der Weltwirtschaftskrise und letztlich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sowie Vertreibung und Deportation durch den Nationalsozialismus in Europa von all den Widrigkeiten draußen ablenken wollten. Der Film vereint Elemente aus Varieté, Musical und Stummfilmkomödie. Warmer Sound schafft einen Polster zwischen sozialer Realität draußen und dem Kinoraum als Fluchtpunkt. Man ist an Hanns Eislers Kampf „Gegen die Dummheit in der Musik“ erinnert, als der tierische Protagonist, ein freundlich anmutender Esel, von etwas nicht ganz Durchschaubarem hingerissen, den Musical-Song „I’ve Got a Feelin’ You’re Foolin’“ von Arthur Freed und Nacio Herb Brown anstimmt. Ein Gefühl, wie beim Hören eines nicht allzu schlechten, aber doch ziemlich schmalzigen Schlagers.
Allerdings erschließen sich die gesellschaftspolitischen Bezüge in Polednas „Imitation of Life“ (2013) erst über den Katalog, wo Esther Leslie herausarbeitet, welch großes Thema der Zeichentrickfilm auf dem Filmfestival der Biennale in Venedig im Italien Mussolinis 1938 war. Hier lief der erste Spielfilm der Disney-Studios, Snow White and the Seven Dwarfs, der mit der Folien-animationstechnik eine Hochblüte des Genres einleitete. Minutiös genau gearbeitete Zeichnungen, wie sie zur Animation von Wasser in Bewegung hergestellt wurden, ergänzen deshalb die Präsentation Polednas im Österreich-Pavillon. Sie illustrieren aber auch die extrem ungleiche Gewichtung zwischen Aufwand und Wirkung, zwischen Arbeitskraft und Aussage. Wie genial Mathias Poledna allerdings die Mittel wirklich gewählt hat, um die Methoden der Kulturindustrie aufs Korn zu nehmen, oder ob er selbst auf dem Weg dazu ist, in deren Fänge zu geraten, das wird sich erst aus der Distanz ausmachen lassen. Trotz ihrer zweifellos interessanten Momente ist es für die Biennale di Venezia hingegen an der Zeit, ihre Retro-Gemütlichkeit bald wieder abzuwerfen.
Biennale di Venezia
55th International Art Exhibition – The Encyclopedic Palace
bis 24. November 2011