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Blickfang mit Durchsicht

Text: Daniel Kalt | Fotos: Nina Ober

Für den Typus des gemächlichen Stadtspaziergängers bietet die schnelllebige Gegenwart wenig Platz – möchte man meinen. Denn in neonblinkenden Global Cities geht es anders zu als im Paris des 19. Jahrhunderts, wo Charles Baudelaire mit seinen Sonetten das Bild des flâneur in der Großstadt der Moderne lancierte. An die Stelle des detailverliebten Bummelnden ist eine gehetzte Masse getreten, die sich durch einen Dschungel von eingängigen Slogans und grellen Beschriftungen schlägt. Inmitten solcher Informationsfluten ist das Schaufenster als Präsentationsfläche einer verlockenden Warenvielfalt eine bedeutsame Erscheinung. Und das betrifft die Mode in besonderem Maß. Heute Mailand, morgen New York, übermorgen Paris – und allerorts einander ähnelnde Vitrinen der immer gleichen Handelsketten: Wer, fragen wir uns, denkt sich diese formschönen Arrangements eigentlich aus? Und besteht hier überhaupt noch ein Quäntchen individuell-kreativen Handlungsspielraums vor Ort?

Ästhetik mit Appellfunktion

Zunächst ist die Funktion des Schaufensters eine informative. Zugleich soll das Begehren des potenziellen Kunden angesprochen, Wünsche geweckt und Bedürfnisse vorgegaukelt werden. Eigentlich handelt es sich um eine in die Wirklichkeit transplantierte Idealsituation: eine Passage von der fotografischen natura morta der Werbeeinschaltung zu einem tableau (prèsque) vivant mit Plastikpuppenbeteiligung. Auf einmal wartet die Ware, zum Angreifen nahe, darauf, den Besitzer zu wechseln.

Ästhetik mit Appellfunktion – man kommt, sieht und kauft. Der beschaulich-kontemplative Schaufensterbummel (die Franzosen nennen das übrigens lèche-vitrines, also Scheibenschlecken) findet derweil – wenn überhaupt! – außerhalb der Öffnungszeiten statt.

Für Designer, die nicht selten Inspiration aus dem regen Stadtleben schöpfen, erhält ein aufmerksamer Schaufensterparcours unter Umständen über das beschauliche Vergnügen hinaus Bedeutung. Zurück zur Flânerie? Die Wiener Mode-Avantgardistin Claudia Rosa Lukas hat interessante Assoziationen zum Thema und trennt dabei zwischen Pflicht und Kür: „Ich schaue mir Schaufenster nur gerne an einem Sonntag oder bei einem nächtlichen Spaziergang an. Beim Einkaufen aber hab‘ ich gerne vollgeräumte Vitrinen, da sehe ich gleich, was mich drinnen erwartet. Spart Zeit. So wie das Plastikessen in japanischen Auslagen.“

Apropos rationale Sichtweise und, warum nicht, Prozessoptimierung: Da in einer globalen Wirtschaft von einem ebenso globalen Kundenprofil ausgegangen werden möchte, bleibt bei weltweit agierenden Marken nicht nur das Warensortiment von Land zu Land dasselbe. An den Schaufenstern einer Niederlassung ist bestenfalls deren konkrete Verortung nicht abzulesen. Ultimatives Ziel ist generell ein weltweit funktionierendes Image, und so wird nichts dem Zufall überlassen. In den Marketingabteilungen der multinationalen Konzerne sind Spezialisten des sogenannten Visual Merchandising damit betraut, Produktpaletten zu selektieren, Arrangements auszutüfteln und geeignetes Dekorationszubehör zu beauftragen. Von adidas Österreich ist stellvertretend für viele Mitbewerber Folgendes zu erfahren: „Unsere Own-Store-Fenster werden nach einem globalen Roll-Out-Plan jeden Monat neu gestaltet. Das heißt, dass monatlich eine andere Range gehighlightet wird und wir so in unseren eigenen Stores ein einheitliches Bild schaffen“, weiß Pressesprecherin Stefanie Lang.

In gleichem Maße vereinheitlicht sind übrigens auch jene markenspezifischen Verkaufsflächen, die einem Shop-in-Shop-Prinzip folgen. Auslagendekorateure, die sich bestrumpften Fußes durch Schaufensterbereiche schlängeln und Einzelteile auf Schaufensterpuppen drapieren, verfügen im Regelfall über ein geringes Maß an Handlungsspielraum. Zwar vernimmt man etwa aus dem American- Apparel-Store in Wien, dass die „Visual Merchandiser“ Freiheit bei der endgültigen Produktauswahl genössen. Angesichts einer standardisierten Shop-Architektur und der charakteristischen, saisonresistenten Kollektion mit Schwerpunkt auf farbenfrohen Jersey-Teilen kommt es aber auch hier fraglos zum erwünschten Wiedererkennungseffekt. Womit man dem angenommenen Profil eines idealen Kunden und den dazu passenden Erwartungen entsprechen dürfte.

Wiener Trauerspiel mit lichtblicken

Was nun das Distinktionsvermögen des Modestandorts Wien betrifft, so spricht des Landes bekannteste Modebloggerin Michaela Amort (Tschilp.com), von Berufs wegen übrigens IT-Marketingprofi, ein vernichtendes Urteil aus: „Die Wiener Auslagensituation ist ein Trauerspiel. Mit Konzept gestaltete Schaufenster beschränken sich hauptsächlich auf globale Unternehmen. Da sich aber Chanel- wie H&M-Auslagen in Tokyo, Cannes oder Wien bestenfalls durch die Ladengröße unterscheiden, lässt sich hier ja genau genommen gar nicht von einer Wiener Situation sprechen.“ Dem Wort der aufmerksamen Expertin, die in ihren Postings immer wieder gelungene oder kritikwürdige Beispiele herausgreift, ist im Allgemeinen zuzustimmen. Am Kohlmarkt, der ersten Adresse der Stadt, spielt sich nicht viel Bemerkenswertes ab. Beziehungsweise wendet sich das lokal Bemerkenswerte (denken ließe sich an die nahezu mysteriös verhaltene Blusenboutique „Hilde Krahl“) offenbar an eine über Vitrinenimpressionen erhabene Stammkundschaft. Existieren sie aber, die mit Liebe zum Detail hantierenden Schaufensterdekorateure mit Handlungsspielraum jenseits von Marketingvorgaben?

Wer akribisch sucht, wird auch im dürftigst bestückten Terrain fündig: So erweist sich die Grafikerin, Designerin und Eben-auch-Schaufensterdekorateurin Eleonore Bujatti, verantwortlich für die Auslagen von vier über den Wiener Stadtraum verteilten Cachil-Boutiquen, als ein wahres Juwel. Über die Jahre ist die Vitrine zur Spielwiese ihres ästhetischen Empfindens geraten. Nach und nach avancierte der Job, mit dem sie ihr Studium an der Wiener Universität für Angewandte Kunst finanzierte, zum (Professions-Patchwork sei dank) monetären Hauptberuf. Dabei arbeitet sie genau so, wie sich der Journalist dies vor Beginn seiner Recherchen vorstellen hätte wollen: Mit Sorgfalt und Stilempfinden selektiert und kombiniert sie aus dem Angebot „ihrer“ Boutiquen und erstellt harmonische Arrangements, die als stimmiges Ganzes die Verbindung zwischen Innen- und Außenraum herstellen. Dabei, so Eleonore Bujatti, habe sie – besonders zu Saisonstart – alle Freiheiten. Schwierig werde es eher, wenn nach guten Verkäufen ein paar Monate später die Auswahl drastisch abnimmt. „Gegen Ende der Saison muss ich manchmal schon sehr würfeln, weil immer weniger Teile aus der aktuellen Kollektion zur Verfügung stehen. In ein und demselben Schaufenster zwei Saisonen zu mischen, wäre so etwas wie ein Kapitalverbrechen.“ Dasselbe gilt übrigens auch in Modestrecken von Zeitschriften: Zum Einen herrschen in den Redaktionen klare Termine für den Saisonwechsel (ab August, allerspätestens September – und nur im Notfall – gibt es ein entschiedenes Njet für Teile aus den Sommerkollektionen zu hören), zum Anderen ist mixed season gleich last season und damit selbstverständlich ein Tabu.

Interessanterweise ist es jenseits aller ästhetischen Stimmigkeit tatsächlich auch in kommerzieller Hinsicht bedeutsam, welche Teile für die „öffentlichkeitswirksame“ Schaufensterdekoration herangezogen werden. Denn die Sache mit dem Aktivieren von nicht vorhandenen Bedürfnissen funktioniert über die Maßen gut. „Die Kunden kommen auch noch ins Geschäft, wenn die Auslage schon umgestaltet ist, und erkundigen sich, ob ein Teil noch zu haben ist“, plaudert die einnehmende Frau Bujatti aus der Schule. „Selbst in den paar Stunden, die ich in einer Boutique verbringe, wird ein T-Shirt aus dem Schaufenster bis zu fünf Mal verkauft. Die Kunden kommen rein und verlangen ausdrücklich ‚das aus der Auslage‘.“ Von solcher Unmittelbarkeit ist unterdessen in den Moderedaktionen nur zu träumen.

Spieglein, Spieglein…

Nach derlei Verlockungen ist es zum Abschluss vielleicht nicht ganz uninteressant, einen Seitenblick auf das Thema aus anderer Perspektive zu werfen. Zur Satisfaktion der kritischen Intelligentsija gewissermaßen, die ebenfalls an der Modestange gehalten werden möchte. Wenn also bei Jean Baudrillard, dem Philosophen der Konsumgesellschaft, der Stadtraum als kompetitives Spielfeld der Postmoderne schlechthin umrissen wird, kommt dem Begehren anregenden Schaufenster zweifellos gleich omnipräsenten Werbeflächen zentrale Bedeutung zu. Und weiter: Bei dem unerbittlichen Psychotherapie-Theoretiker Jacques Lacan gilt die Spiegelfläche als Inbegriff einer Abgeschlossenheit des Subjekts in sich oder vielmehr vor sich selbst – schließlich kann der Mensch bloß dank des Spiegels seiner gesamten äußeren Erscheinung gewahr werden und beschaut sich also nie ohne dazwischen liegende Brechungsinstanz. Wer jemals versucht hat, eine Auslage zu fotografieren, wird den Verweis vom Schaufenster auf den Spiegeldiskurs verstehen. Auf die eine oder andere Weise und je nach Lichtverhältnis sieht der Betrachter sich wenigstens zum Teil in das Arrangement, Objekt seiner Begierde, hineinprojiziert.

In diese denkwürdigen Richtungen (Begehren vs. Spiegelfläche) geht nun eine Umsetzung der leidigen Vitrinenfrage, die sich vor nicht allzu langer Zeit Robert Stadler einfallen ließ. Die Arbeit des in Paris ansässigen Produktdesigners österreichischer Herkunft strahlt längst über Connoisseur-Kreise hinaus. So wurde er von Maison Dior beauftragt, in exklusiver Zusammenarbeit für die Weihnachtssaison 2007 eine weltweit funktionierende Auslagengestaltung zu entwerfen. Das Ergebnis war ein filmsequenzähnliches Wechselspiel veränderlicher Bilder. „Die Scheiben waren mit einer einseitig verspiegelten Folie beklebt und ließen die Silhouetten der Puppen und die Accessoires dank eines ausgeklügelten Beleuchtungssystems verschwinden und wieder auftauchen. Der Betrachter war überrascht von der ständigen Abfolge aus Spiegelungen und geisterhaft auftauchenden Objekten.“

Raffinierter, möchte man sagen, lässt sich die Angelegenheit kaum in Angriff nehmen. Zwar ist Herr Stadler nicht um das mutmaßlich komplizierte Validierungs-Prozedere mit John Galliano zu beneiden, doch stellt seine Lösung die vorläufig „gültige Fassung“ einer Auslage dar, bei der alle denkbaren Aspekte thematisiert werden. In verknappterer Form und eindrücklicher ist der verzwickte Diskurs nicht darzustellen.

Freilich besteht in der bloßen Möglichkeit solchen Tüftelns der Vorteil des hinzugezogenen Künstler-Outsiders. Schließlich leistet seine Arbeit sich den Luxus eines leicht verstörenden Settings. Im Auslagenalltag wäre das schlichtweg undenkbar: Hindernislose Wahrnehmbarkeit verkauft am besten.

Besonderer Dank gilt Eleonore Bujatti, die uns Tor, Tür und Fenster von Cachil Tuchlaubenhof (Tuchlauben 7A, 1010 Wien) und Cachil Galerie (Marc-Aurel-Straße 5, 1010 Wien) öffnete.

| FAQ 04 | | Text: Daniel Kalt | Fotos: Nina Ober
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