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Chronik eines langsamen Verschwindens

Text: Pamela Jahn | Fotos: Stadtkino

Kühne Ideen werden aus Abenteuerlust geboren, aus Mut oder aus Verzweiflung. Lillian, die stoische junge Frau in Andreas Horvaths gleichnamigem Film, hat von all dem etwas. Denn sonst hätte sie kaum den Entschluss gefasst, zu Fuß in ihre russische Heimat zurückzukehren. Vor einem Jahr war sie nach New York gekommen, doch ihr Traum von einem besseren Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ging nicht auf – und er platzt endgültig, als sie mittellos und nach Arbeit ringend selbst von einem schmierigen Porno-Produzenten abgewiesen wird, der sich an ihrem abgelaufenen Visum stößt und ihr rät, ihr Glück lieber zu Hause in Russland zu suchen. Daraufhin macht sich Lillian auf den Weg quer durch die USA, um über Kanada und Alaska zur Beringstraße zu gelangen. Mit rotgefärbten Haaren, zerrissenen Strümpfen, in Minirock und Stiefeln, die bestenfalls für die High Street nicht aber für einen langen Fußmarsch gemacht sind, stampft sie los, erst langsam und missmutig, dann immer entschiedener und mit einer Landkarte in der Tasche, die zumindest eine vage Hoffnung birgt. Essen und eine dürftige Ausrüstung muss sie sich unterwegs zusammenklauen. Was ihr bleibt, passt in einen schmalen Rucksack – und in ein Wort: nichts.

Andreas Horvaths Film, der in diesem Jahr in Cannes in der Reihe Quinzaine des Réalisateurs seine Weltpremiere feierte, folgt seiner Protagonistin mit Geduld und Respekt und schießt sich damit zunächst einer Tradition von Outdoor-Survival-Dramen an die, bei denen der Fokus weniger auf dem physischen Überlebenskampf liegt als auf der psychologischen Dynamik und inneren Widerstandkraft der Figuren. Lillian spricht nicht, und dennoch erfahren wir mit jedem Schritt, der sie ihrem Ziel ein Stück näherbringt, mehr von ihr wie von dem Land, durch das sie sich kämpft wie ein angeschlagener Krieger auf dem Weg zur Erlösung. Der Film, der sich aus ihr heraus und um sie herum ergibt, ist ein Roadmovie der besonderen Art: Zu Fuß und mit dem Blick einer Fremden erobert er die Landschaft, durch die sich die Kamera stets versiert und entschlossen bewegt, während seine Protagonistin immer weniger, immer müder, immer langsamer wird. Die Schule am Dokumentarischen, die Nähe des Filmemachers zur Kunst, sein fotografischer Blick – all das ist in Lillian stets gleichzeitig so präsent und ungreifbar wie die Protagonistin selbst.

Horvath, 1968 in Salzburg geboren, hat sich in den Dokumentationen, mit denen er auch außerhalb Österreichs bekannt wurde, schon immer für Leute interessiert, die im Leben eine Kehrtwendung genommen haben, egal in welche Richtung. Menschen wie Barbara Wally, die ehemalige Direktorin der Internationalen Sommerakademie in Salzburg, die sich kurz vor der Pension entschließt, noch einmal ganz von vorne anzufangen, weil sie das Schicksal überrumpelt hat. Oder der einst für einen Golden Globe nominierte österreichische Schauspieler Helmut Berger, der sich vom Höhepunkt seiner Karriere aus langsam erst in die Depression und schließlich in den Ruin gesoffen hat. Hier wie dort ist Horvath seinen Figuren auf der Spur, heftet sich dicht an sie heran und lässt sich auch dann nicht abschütteln, wenn es ungemütlich wird, und keiner, am wenigsten seine Hauptfiguren selbst, ihn noch um sich haben wollen …

Vollständiger Artikel in der Printausgabe 


LILLIAN

Dokumentation, Drama, Roadmovie – Österreich 2019

Regie, Drehbuch Andreas Horvath Kamera Andreas Horvath, Sonja Aufderklamm Schnitt Michael Palm, Andreas Horvath Musik Andreas Horvath Kostüm Tanja Hausner

Mit Patrycja Planik

Verleih Stadtkino, 128 Minuten

Filmstart 6. September 2019

| FAQ 53 | | Text: Pamela Jahn | Fotos: Stadtkino
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