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Con moto

Text: Jörg Becker | Fotos: Stadtkino

Episoden aus dem Leben der Zwanzig-/Dreißigjährigen im 13. Arrondissement von Paris – Wo in Paris die Sonne aufgeht – zeitdiagnostisch hart und romantisch, bestens schwarzweiß ins Bild gesetzt – von Jacques Audiard, Filmregisseur und Drehbuchautor. Und als Bonus zum 70. Geburtstag: ein Blick auf sein Werk.

Es sind Kurzgeschichten des Graphic Novelist Adrian Tomine („Amber Sweet“ / „Killing and Dying“ / „Summer Blonde“ / „Hawaiian Getaway“), die gleich drei Cannes-Stars der jüngsten Zeit, die Filmemacherinnen / Drehbuchautorinnen Léa Mysius (Ava, 2017), Céline Sciamma (Portrait de la jeune fille en feu, 2019) sowie Jacques Audiard, der Regisseur selbst, episodisch miteinander verflochten haben für einen Film, der, mit Ausnahme einiger farbiger Einstellungen auf die Telesex-Workerin auf dem Bildschirm, in einem betont grafisch wirkenden, eleganten Schwarzweiß gehalten ist. Diese Wahl erscheint hier so gelungen, dass sie womöglich modellhaft sein bzw. „Schule machen“ könnte. Ein künstlerischer Anspruch versteht sich dabei nahezu von selbst; darüber hinaus ergibt sich für die Erzählung, die vom gegenwärtigen Alltagsleben der jungen Bevölkerung im Dreizehnten Arrondissement von Paris handelt, eine Art von kühlendem Effekt in Anbetracht jeder aufdringlichen Konkretion der Umgebung, welche die Zeitzeichen des Banalen dämpft zugunsten abstrakter Überschau, die diesem Pariser Stadtteil als Schauplatz der Handlung sehr angemessen erscheint. Stilsichere Anschlüsse der Aufnahmebewegungen zwischen äußerem Stadtpanorama, Großraumbüro und intimem Innenleben unterstreichen die kinematografische Klasse von Kamera (Paul Guillaume) und Schnitt (Juliette Welfling). Schauplatz ist ein multikulturelles Viertel, insbesondere ein Quartier asiatique, im Zeichen von „les olympiades“, einem Ensemble von Wohnhochhäusern, dessen futuristisches Aussehen durch das Schwarzweiß dieses Films wie das Urbane schlechthin zur Geltung kommt.

Moderner Liebesreigen in Zeiten von Dating-Apps und Sex im Internet

Als Émilie (Lucie Zhang), eine taiwanesische Chinesin, die im Apartment ihrer im Heim untergebrachten dementen Großmutter lebt, Camille (Makita Samba), seit neuestem Lehrer an einem Gymnasium in der Nähe, die Tür öffnet, ist sie verblüfft, weil sie, die ein Zimmer zur Untermiete annonciert hatte, unter jenem Namen eine Frau erwartet hatte. Da man die beiden aber zuvor bereits in sexueller bzw. Après-Situation gesehen hatte, ist man bereits auf eine zerlegte, a-chronologische Erzählweise eingestellt, rechnet mit Vorwegnahmen und Perspektivwechsel.

„Zuviel Ekstase!“, warnt sie ihn inmitten einer Sex-Szene – „Du bist dabei, dich zu verlieben“. Ein ungleiches Verlangen zeigt sich, er wolle keine Beziehung, solle man womöglich einen Plan nach dem Kalender vereinbaren? Gekränkt biestig und abgekühlt geschäftsmäßig bringt sie neue Regeln ins Spiel, zum Umgang mit den Bedürfnissen und wie man sie miteinander befriedigt. Als er kurz darauf wieder ausgezogen ist, sieht man ein abgezogenes Bett im hellen Zimmer, oberhalb ein Ausblick durch die großen Fensterflächen ins Weite, der leere Himmel, in den die Wohntürme aufragen, ein wiederkehrendes Sinnbild. In Sachen Befriedigung setzt Émilie, eine Elite-Studentin, die sich mit billigen Gelegenheitsjobs herumschlägt, in der Folge wieder ganz auf ihre Dating-App, schnellen Sex, in der Mittagspause – hernach sieht man sie einmal in Zeitlupe durchs Lokal schweben, in dem sie bedient – „Satisfaction“ als eine Selbstgefühlsprojektion. Auch solch ein märchenhaftes Abheben in traumhafte Schwerelosigkeit kann der Film anspielen.

Auf Bildschirm und Display

Eine seltsame Irritation hält eine spätere Episode bereit, als man auf einem Computerbildschirm den Beginn einer Performance des Cam-Girls „Amber Sweet“ (Jehnny Beth) folgt; ein halbstündiger Sex-Chat als Geburtstagsgeschenk für einen Mann ist angekündigt; Nora taucht auf (Noémi Merlant; sie spielte die Malerin in Portrait de la jeune fille en feu), die einen Job als Immobilienverkäuferin bei einem Onkel in der Provinz hinter sich gelassen hat, um in Paris Jura zu studieren. Ihre Ähnlichkeit mit dem Cam-Girl legt den Gedanken nah, diese Sex-TV-Peep-Performances seien ihre Geldquelle, was sich bald als Täuschung herausstellt. Als Nora mit einer blonden Perücke auf ein Studentenfest geht, wird sie von einschlägig erfahrenen Studenten für jene Telesex-Workerin gehalten und mit obszönen Angeboten schockiert. Im gefüllten Hörsaal der Universität, kommt während eines Redebeitrags von ihr Unruhe auf, nachdem urplötzlich alle Anwesenden der Vorlesung die Sex-Chats mit „Amber Sweet“ auf ihre Smartphone-Displays geschickt bekommen haben. Nora erlebt die Grausamkeit des Cybermobbing.

In der Folge – „Un bon mois plus tard“ / Einen guten Monat später – haben sich die persönlichen Verhältnisse der drei genannten Figuren – plus „Amber Sweet“, die erst am Schluss ihr Telesex-Studio verlässt – verändert. Camille, der eigentlich an seiner Promotion weiterarbeiten wollte, vertritt jetzt eine Immobilien-Firma, Nora hat ihre Studienambitionen aufgegeben und ein Jobangebot bei ihm angenommen, da er als Literaturwissenschaftler und Ex-Gymnasiallehrer keine Ahnung von dieser Branche hat. Nach dem Verlust ihres Callcenter-Verkaufs-Jobs wegen ihrer rüden Ausdrucksformen serviert Émilie jetzt in einem der zahllosen China-Restaurants des Quartiers und streift mit den chinesischen Arbeitskolleginnen über die planen Flächen und Stufen zwischen den Hochhaustürmen und Gewerbezentren.

Nora hat sich der ihr ähnlichen „Amber Sweet“ angenähert, verbringt ganze Nächte mit Blick auf sie auf dem Monitor im Skype-Gespräch, lässt sich später aber auch mit Camille ein, nachdem sie sich anfangs jede Anmache strikt verbeten hatte. Sie habe wohl etwas überreagiert, lenkt sie ein, als ihr deutlich wird, wie sehr sie in dem doch anständigen, sensiblen und gebildeten Mann den Falschen in die Schranken gewiesen hatte. Ihre Unsicherheit, deren Ursachen familiäre Gründe nahelegen, treffen erst in der realen, leibhaftigen Begegnung mit „Amber Sweet“, der anderen Frau unter der Blondhaar-Perücke, auf ein Verständnis, das ihr Begehren weckt.

Affektdurchbrüche und Begehren

Wie Nora sich mit einem wohlgesetzten Faustschlag an den Kopf der Mitstudentin für deren hämische Aufmerksamkeit auf den vermeintlichen Cam-Call-Auftritt revanchiert, ist in dieser plötzlichen Gewaltbereitschaft ganz Audiard-like, ein befreiender physischer Durchbruch, nach dem es ihr besser geht. Ruppige Selbstbehauptung rührt aus den übelsten Verletzungen her, vorauseilendes Gefühl von Ablehnung, die Kehrseite eines Verlangens nach Beziehung, aus dessen Energie jene gespeist wird. Verwundbarkeit und Kampfbereitschaft in Personalunion.

Die Episoden aus dem Ensemble der jungen Leute im 13. Arrondissement kreisen um Identitätssuche auf allen Ebenen, wenngleich die Beteiligten doch aufs Provisorische eingestellt scheinen, auf Veränderung der Lebenslagen, und oft von neuem mit der Konfusion der eigenen Bedürfnisse konfrontiert sind. Höchst zeitsymptomatisch, viel Leben spielt sich in dem, was aus den Laptops, von den Displays strahlt, ab. Aus Bedürfnis und Verlorenheit reagieren die Personen auf das, was ist, aus Gelegenheit, mit Blick auf die Dating-App, aus Halbherzigkeit oder Gewohnheit, mit Rücksicht auf die unklare persönliche Lebensplanung; jede libidinöse Beziehung sollte sich einfügen, zu händeln sein, Bedürfnisbefriedigung garantieren. Wie soll nun das Andere die Chance haben, ins Leben zu treten, ein Leben, für das ein Recht auf Glück nicht vorgesehen ist?

Trieb, frei nach Freud, sei die Energiemasse, die das menschliche Wesen motiviert. In der Übersetzung mit „Pulsion“ unterscheidet Jacques Lacan den Trieb in das Bedürfnis (besoin), den Anspruch (demande) und das Begehren (désir): Primär auf Befriedigung körperlicher Bedürfnisse abzielend, geht das Bedürfnis über in einen Anspruch auf den Anderen, seine Gegenwart oder seine Abwesenheit, die Gabe dessen, was man seine Liebe nennt; das Begehren entsteht daraufhin als die Differenz zwischen Bedürfnisbefriedigung und Liebesanspruch, ihre Spaltung. Dieses Begehren ist nicht erfüllbar, und so zirkuliert es, vor allem in Melodramen.

Traumhafte Romanze im unromantischen Lebensraum

Bei der ersten leibhaftigen Begegnung mit „Amber Sweet“ draußen im Park fällt Nora in Ohnmacht – „Embrasse-moi“ (Küsse mich) – und die weich umrissenen Profile ihrer Gesichter berühren sich in einem romantischen Tageslicht. Anschließend, in der leeren Wohnung der verstorbenen Großmutter, als Émilie noch einmal durch den Breitwand-Fensterausschnitt über die Stadt, ins Weite schaut, dann Camille durch die Sprechanlage vom Hauseingang aus anruft, „Je t’aime“, und sie Augenblicke später nachfragt, sich nochmals wiederholen lässt und in diesen Momenten verwandelt, dann die Wohnungstür schließt und zu ihm abgeht, während die Kameraeinstellung sich sacht dem Hörer nähert, den das Mädchen soeben eingehängt hat – haben wir eine weitere romantische Wende injiziert bekommen. Und das alles wird, zu guter Letzt, durch den Song, der nun anhebt, auf das Schönste beglaubigt – eine heutige, synthetisch programmierte Version von „Falling in Love Again“ (dt.: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“; Reginald Connelly/Friedrich Hollaender) – gesungen von der im Dreizehnten Arrondissement geborenen Lucie Zhang (= Émilie), der großen Entdeckung dieses Films, von der an anderer Stelle des Films die Klaviersonate Nr. 17 von Franz Schubert zu hören ist – con moto …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 64

 

LES OLYMPIADES, PARIS 13E / WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT
Drama, Romanze, Komödie – Frankreich 2021 – Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Jacques Audiard, Céline Sciamma, Léa Mysius, Adrian Tomine
Kamera: Paul Guilhaume, Schnitt: Juliette Welfling, Musik: Pierre-Marie Dru
Mit: Noémie Merlant, Geneviève Doang, Jehnny Beth, Line Phé,
Pol White, Makita Samba, Lucie Zhang

Verleih: Filmladen, 105 Min.
Filmstart: 22. April 2022

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