Dieses Verfahren besteht in einer freiwilligen Reproduktion der Natur, die man vermittels einer Camera obscura erhält, zwar nicht mit ihren Farben, allein mit einer großen Feinheit der Schattierungen … Frankreich hat diese Erfindung adoptiert; vom ersten Augenblick an hat es sich so hochherzig gezeigt, diese Erfindung freigiebig der ganzen Welt schenken zu wollen.
Dominique François Jean Arago in einem Bericht über den Daguerreotypen 1839. In: Wolfgang Kemp, „Theorie der Fotografie 1, 1839–1912“ (Seiten 51–55)
Als 1989 150 Jahre Fotografie gefeiert wurde, begleiteten um dieses Jubiläum herum viele Forschungsprojekte, Symposien, Publikationen, Ausstellungen, sowie Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften dieses Ereignis. „Fotografie“ war im Fokus allgemeiner Aufmerksamkeit angelangt. Inzwischen, 25 Jahre später, haben elektrooptische Verfahren die chemooptischen Verfahren der Bildaufzeichnung umfassend abgelöst. Obwohl diese Entwicklung der Fotografie als Kulturtechnologie unglaubliche neue Möglichkeiten und Verwendungsarten eröffnete, wird von manchen vom Ende des fotografischen Zeitalters gesprochen. Die „alten“, analogen Fotografien scheinen als Objekte, als Relikte einer vergangenen Zeit betrachtet zu werden. Erst vor kurzem war unter großer öffentlicher Beachtung die älteste noch erhaltene Fotografie – jene bekannte Aufnahme eines Ausblicks aus einem Fenster von Joseph Nicéphore Niépce – in Mannheim ausgestellt. Vor Umwelteinflüssen bewahrte sie eine eigens konstruierte Konservierungsbox, die doch sehr an die Überlebensvorrichtung von Darth Vader aus Star Wars denken ließ.
1839, am 19. August, wurde in einem feierlichen Akt der französischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Schönen Künste das Verfahren des französischen Malers und Betreibers von Dioramen, Louis Jacques Mandé Daguerre, unter der Bezeichnung Daguerreotyp als ein Geschenk an die Welt präsentiert. Jeder sollte das Verfahren frei ausführen und im Dienste der Wissenschaft und der Künste nicht bloß anwenden dürfen: Dominique Francois Arago forderte die zukünftigen Benützer sogar auf, an einer weiteren Verbesserung mitzuarbeiten. Der Status dieses neuen Bildverfahrens war damit dem vergleichbar, was heute im Bereich von Computerprogrammen landläufig mit dem Terminus „Open Source“ beschrieben wird.
Voraussetzung ist dabei ein allgemein lesbarer, nachvollziehbarer Code der erweiter- und veränderbar sein muss. Im Falle des fotografischen Verfahrens der Daguerreotypie, kurz Daguerreotyp genannt, bestand die Offenlegung in der Veröffentlichung der Pläne mit bemaßten Konstruktionszeichnungen der Gerätschaften, weiters in der Angabe der benötigten Materialien sowie in einer genauen Anleitung zur Herstellung der Daguerrotypien. Der Erfolg lag nach heutiger allgemeiner Einschätzung neben der gut vorbereiteten und öffentlichkeitswirksamen Präsentation nicht zuletzt darin, dass es sich zum Zeitpunkt seiner Einführung tatsächlich um ein bereits ausgereiftes Verfahren handelte, das mit Erfolg nach den Beschreibungen von beinahe jedermann anzuwenden war. Arago war bei der Präsentation des Verfahrens wichtig zu betonen, dass der Daguerreotyp keine Handhabung verlange, die nicht alle ausführen könnten. Er verlange keine Fähigkeiten im Zeichnen, keine manuelle Geschicklichkeit. Wenn man sich Punkt für Punkt an sehr einfache, wenige Regeln halte, dann dürfte jeder zu den gleichen sicheren und gelungenen Resultaten gelangen wie Daguerre selbst.
Bereits wenige Monate danach wurden in verschiedenen Ländern Anleitungen in gedruckter Form zum Kauf angeboten, anhand derer einerseits Firmen die nötigen Gerätschaften (Kameras, Sensibilisierungs- und Entwicklungskästen) und Utensilien bereitstellen konnten und andererseits am Daguerreotyp interessierte Personen sich das neuartige Verfahren aneignen konnten.
Die Praxis, über Publikationen Wissen und Erfahrungen auszutauschen und über Neuerungen zu informieren, kann als ein Spezifikum dieser neuen Technologie angesehen werden, da Handbücher, Rezepte, Anleitungen aber vor allem auch Periodika, die in hohen und auch wiederholten Auflagen von einigen auf dieses Gebiet spezialisierten Verlagen erfolgreich vertrieben wurden, eine wichtige Informationsquelle für die verstreuten, unterschiedlichen Gesellschaftsschichten angehörenden Anhänger darstellten.
Und selbst nach Jahrzehnten verlieren alte Rezepte nicht ihre Gültigkeit und ermöglichen es, längst nicht mehr gebräuchliche Verfahren wieder anzuwenden. So entstand die in diesem Artikel abgebildete Ansicht von La Grande Arche nach einer Rezeptur, die sich in „Rezepte und Tabellen“ von Josef Maria Eder, 9. Auflage, Halle 1917, abgedruckt findet. Selbst Daguerreotypien können nach den damaligen Beschreibungen des Verfahrens jederzeit wieder erstellt werden. Auch aktuell lassen sich Antworten auf fotografische Fragen in vielen Zeitschriften, Handbüchern oder im Netz finden; in zahlreichen Internetforen kann jeder seine Ergebnisse und Erfahrungen mit anderen Gleichgesinnten teilen und tauschen.
Der Daguerreotypist ist, wie später der Automobilist, eine Form des Maschinisten – in den ersten zwei Jahrzehnten der Fotografie allerdings auch eine Art Alchimist. Man zeichnet oder malt eben nicht (worauf Arago hinwies) sondern bedient die Apparatur; man führt eine Handlungsanleitung unter Verwendung ganz bestimmter Materialien aus.
Da zeichnerisches Geschick nicht notwendigerweise Voraussetzung war, so waren ein Kunsthändler in Berlin oder Fürst Metternich in Österreich unter den ersten, die einen Daguerrotypen kauften, ebenso Beamte, Optiker, Ärzte und (wie Hans Frank und Margarethe Kuntner in einem Aufsatz in „Geschichte der Fotografie in Österreich“, Bad Ischl, 1983, berichten) die Schwestern Lentsch. Eine von ihnen, Barbara, beobachtete als Dienstmädchen einen Daguerrotypisten; davon beeindruckt, eigneten sie und ihre Schwester sich diese Technik an und zogen als reisende Daguerrotypistinnen wie viele andere durch Europa. Michel Frizot führt im Band „Neue Geschichte der Fotografie“ an, dass zu Beginn vor allem Verleger, Drucker, Chemiker, Optiker, Mathematiker, Händler und Feinmechaniker den Daguerreotypen populär gemacht hätten und dass Plätze, Geschäftslokale und Laboratorien die häufigsten Orte seiner Präsentation waren.
Nicht unbeachtet sollte bleiben, das dieses fotografische Verfahren des Daguerreotypen im fünfzigsten Jahr des Sturms auf die Bastille 1789 präsentiert wurde und der Akt, es als Geschenk sozusagen der Welt zu geben, somit mit diesem Ereignis in Beziehung zu bringen ist. Das hundertste Jahr markierte der Eiffelturm, der 1889 im Rahmen einer Weltausstellung in Paris eröffnet wurde. Und schließlich wurde La Grande Arche vom französischen Präsidenten François Mitterand für die 200-Jahresfeier der Revolution beauftragt.
In Bezug auf den freien, gleichen Zugang zum Daguerreotypen, indem jeder unabhängig von Stand und Herkunft dieses neue Bildverfahren nützen konnte, entsprach er der in der französischen Revolution geforderten Gleichheit der Menschen und konnte darin als ein Kind dieser revolutionären Veränderung betrachtet werden. Die Freiheit seiner Anwendung wurde gerade in den ersten Jahren kaum durch Gesetze eingeschränkt. Einschränkung ergaben sich eher aufgrund der Unzulänglichkeiten der Technik in Bezug auf lange Belichtungszeiten oder eingeschränkter spektraler Empfindlichkeit. Hinzu kamen der zeitliche und finanzielle Aufwand. Die letzte der zentralen Forderungen und Erklärungen der revolutionären Jahre, der nach Brüderlichkeit, nach der Bereitschaft mit allen zu teilen, erfuhr leider schon einen Rückschlag, bevor von Arago das Geschenk Frankreichs der Welt offeriert wurde. Louis Jacques Mandé Daguerre hatte sich Wochen vor dem 19. August 1839 sein Verfahren in England patentieren lassen, gerade in dem Land also, in dem von Henry Fox Talbot ein dem Dauerreotypen sehr verschiedenes fotografisches Verfahren entwickelt wurde.
Die anfänglichen Nachteile von Talbots Verfahren, das papierene Negative erzeugte, die dann in einem weiteren Schritt wieder zu einem positiven Abbild mit schmerzlichen Verlusten der Abbildungsqualität umkopiert werden mussten, führten nach dessen Weiterentwicklung schließlich zu jenen Vorteilen und Eigenschaften, die den Daguerreotypen zu einer zwar wichtigen, aber trotzdem nur kurzen Episode in der Geschichte der Fotografie werden ließ.
Thomas Freiler ist bildender Künstler und als Senior Artist seit 2006 Leiter des Labors für Fotografie an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Philosophiestudium an der Universität Wien, Studium an der Universität für angewandte Kunst Wien.
Seit 1985 Arbeiten mit und über Fotografie, Lehraufträge und Lehrtätigkeiten an künstlerischen Hochschulen und Universitäten, sowie Vorträge und Veröffentlichungen zu Theorie und Geschichte
der Fotografie.